Der Verrat, Ellen Sandberg, Penguin Verlag
Die drei ungleichen Schwestern Pia, Birgit und Ariane (Nane) wachsen in
Frankfurt am Main auf, in einem gutbürgerlichen Haushalt, in dem ihre schöne
Mutter ihre Schuld hinter einem Mythos versteckt und der Vater
geistig/emotional abwesend ist. Pia, die kühle Schöne, die rational
Pragmatische ist der Liebling der Eltern und ihr scheint alles zu gelingen. Was
ihr nicht zufliegt, das nimmt sie sich. So sieht es zumindest ihre jüngste
Schwester Nane, die stets eine tiefe Abneigung gegen die scheinbar Perfekte
hegt, ein Umstand, den die harmoniebedürftige Mittlere Birgit mit all ihren
Vermittlungsbemühungen nicht ändern kann. Birgit folgt ihrem Herzen und Nane
lässt ihren Emotionen freien Lauf. Beide sind damit nicht gut gefahren und Pia
schwört sich, nie so zu werden wie sie. Als Restaurateurin Pia heiratet, nimmt
das Unglück seinen Lauf, ein Unglück, das Nane für 20 Jahre ins Gefängnis
bringt, während Pia ein Leben wie aus dem Bilderbuch führt, auf einem
schlossgleichen Weingut, hoch über den Saarschleifen. Nach 20 Jahren endlich
wird Nanes Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Alles in ihr schreit
nach Klarheit, denn ihre Erinnerungen an die Nacht von vor 20 Jahren sind
verschwommen Sie will wissen, wie groß ihre Schuld wirklich ist, mit der sie
leben muß. Dabei ist sie bereit alles zu riskieren, doch sie muss es wissen,
sie ist getrieben.
Dies ist der neue Roman der Bestsellerautorin Ellen Sandberg („Die
Vergessenen“) und psychologisch spannender und packender als die meisten
Krimis, die ich dieses Jahr gelesen habe. Es geht um die ganz großen Gefühle,
die die Menschen antreibt. Liebe, Verlangen, Hass, Rache, Schuld, Sühne,
Geborgenheit, Angst und trotz der Komplexität der Gefühle wird es nie kitschig
oder rutscht ins Triviale ab.
Nane weiß nicht mehr genau was damals vor 20 Jahren geschehen ist, aber sie
braucht die Klarheit und Gewissheit, daß sie nicht völlig skrupellos ist, um
weiterleben zu können. Sie versucht die Puzzlestücke zusammenzusetzen, auch
wenn die, die es gut mit ihre meinen, ihre Getriebenheit nicht nachvollziehen
können. Aber Nane kann nicht anders, sie muss es wissen! Daher wird die
Geschichte in zwei Zeitebenen geschildert. Damals 1997/1998 als sich das Drama
anbahnte und heute, nachdem Nane vorläufig wieder auf freiem Fuß ist.
Vorläufig, denn sie steht unter laufender Bewährung, verstößt sie gegen die
Auflagen, ist die Freiheit nur von kurzer Dauer gewesen. Doch es gibt da jemanden,
der sie lieber heute als morgen wieder in der vermeintlichen Sicherheit der
Mauern einer Justizvollzugsanstalt wüsste. Dies ist ein Punkt, der mir sehr gut
gefällt. In diesem Roman stimmt alles, auch die juristische Seite, es ist sehr
gut recherchiert (gut, mit dem Weinbau kenne ich mich nicht genug aus, aber
daher geht die Autorin auch hier nicht so sehr ins Detail, ebenso bei der
medizinischen und juristische Seite. Aber was sie schreibt, das stimmt.).
Normalerweise mag ich Erzählungen in Rückblicken nicht so. Oft finde ich es
unnötig und habe den Eindruck, daß es sich nur um eine literaturtechnische Mode
handelt. Doch hier ist dies nicht nur sinnvoll, sondern zwingend, aus der
Geschichte heraus. Neben Nane sucht auch die Tochter des Opfers nach der
Wahrheit dessen, was damals wirklich passiert ist, um darüber ein Buch zu
schreiben. Dabei ist die Umsetzung ganz klar, man weiß stets, in welcher Zeit
der aktuelle Erzählstrang spielt, denn es steht fett über jedem Zeitsprung.
Nane ist emotional nicht die Stabilste. Sie kennt die ganz großen Gefühle
und das bringt sie oft in unglaubliche Schwierigkeiten. Mithilfe von kleinen
weißen Pillen (sie werden nie benannt, es dürfte sich aber wohl um den
Wirkstoff Diazepam) handeln, versucht sie ihr Leben in den Griff zu bekommen.
Dabei übertreibt sie es auch hier mit der Dosis und sie merkt, wie sie sich
selbst entgleitet. Immer wieder versucht sie davon loszukommen, aber das Zeug
und ihre Emotionen sind tückisch. Das ist unglaublich gut geschildert, sehr nah
und sehr realistisch, wie ich es nach den Schilderungen eines
Substitutionsmediziners sehe, mit dem ich mal lange sprach. Interessant sind
auch immer wieder kulturelle Anspielungen auf Kunst, Literatur und
Antiquitäten.
Unglaublich geschickt finde ich das Spiel der Autorin mit den Emotionen des
Lesers. Eigentlich ist Nane ziemlich unmöglich und dennoch komme ich nicht
umhin sie zu mögen, ebenso wie ihre idealistische Schwester Birgit, während mir
Pia immer unsympathischer wird und ich spüre, wie Nane mich für sich
vereinnahmt. Da die Arbeit auf einem Weingut vieler Hände bedarf, dreht sich
nicht alles nur um diese drei Schwestern, doch auch die übrigen Charaktere sind
vollständig ausgearbeitet und man fragt sich stets, was man von ihnen halten
soll? Sind sie gut, sind sie böse? Welche Rolle spielen sie eigentlich in
diesem Drama shakespeareschem Ausmaßes?
Unglaublich packend und spannend, dabei immer emotional nachvollziehbar,
detailreich und gut recherchiert. Trotz der Details fand ich es nie langatmig
und hatte ausnahmsweise nicht das Bedürfnis dieses über 400 Seiten lange Buch
zu kürzen. Man ahnt, was auf einen zukommt, aber kommt es tatsächlich? Sind die
bösen Vorahnungen richtig? Am Ende dachte ich mal, oh, nun ist sie zu weit
gegangen, nun hat sie es übertrieben, aber nein, es kommt anders. Die Personen
bleiben sich treu und das macht diesen Roman nicht nur fesselnd, sondern gibt
ihm auch einen runden Abschluss. Absolut gelungen.
Ich bedanke mich ganz herzlich beim Penguin Verlag für dieses Vorabexemplar
mit der absoluten Leseempfehlung.
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