Kranichland, Anja Baumheier, Beate Rysopp, Audio Book

Kranichland, Anja Baumheier, Beate Rysopp, Audio Book
 

Über dieses Buch habe ich schon so viel begeisterte Stimmen gehört, daß ich neugierig wurde, so neugierig, daß ich sogar bereit war zwei MP3-CDs zu hören, obwohl ich diese Tonträger eigentlich meide:

Geschildert wird das Leben der Familie Groen, beginnend mit der Kindheit von Vater Johannes, der ohne Vater, mit einer schwer depressiven Mutter aufwuchs, bis er nach deren Tod zu Nachbarn kam, über seine Flucht von Schlesien nach Rostock, wo er Elisabeth, seine große Liebe kennenlernt. Auch sie hat mit 16 den Vater verloren, die Nazis haben den Widerständler mitgenommen, für immer. Seither war sie mit ihrer starken Mutter Käthe alleine und versteckte sich im Keller, wo ihnen Nachbarin Käthe beistand. Der junge Flüchtling Johannes wird von dem KGB-Mann Kolya umgarnt, der ihm alles besorgt was Ende des Krieges schwer zu bekommen ist. Auch nach der Kapitulation sorgt Kolya mit seinen Ideen vom Arbeiter und Bauern-Staat für Johannes und Elisabeths Wohlergehen und bringt ihn bei der Stasi unter, während Elisabeth als Krankenschwester arbeitet und sich im Krankenhaus sehr wohl fühlt. Ihre Töchter sind sehr unterschiedlich. Während die älteste Charlotte linientreu ist und ihren Vater anhimmelt, ist Marlene eine unangepasste Künstlerin, die sich in die starren Strukturen nicht einfügen kann. Dadurch kommt es zur persönlichen Tragödie dieser Familie, die man über die Jahrzehnte begleitet, bis erst Jahre nach der Wiedervereinigung ein lange gewachsenes Geflecht aus Lügen nach Elisabeths Tod entworren wird.

Dies ist eine Familiensaga, die mit Johannes Kindheit beginnt, aber schon bald mit Rückblicken aus Elisabeths Kindheit und der Verwirrung durch Marlenes Testament weitergeht. Denn Marlenes Testament ist der Knackpunkt, der zur Enthüllung der Geheimnisse führt. Offiziell ist Marlene 1971 bei einem Segelausflug auf der Ostsee ertrunken, wie kann es sein, daß jetzt erst im Jahre 2017 ihr Testament eröffnet wird?

Einige der Familiengeheimnisse werden den Hörern schon früher klar, als den Betroffen, denn durch die Rückblicke und die Perspektivwechsel, kennt man ja auch ganz andere Facetten der Ereignisse. Dennoch, dieses unsagbare Leid der Familie, die sich nicht unterkriegen lässt, weder von den Nazis noch von der DDR ist wirklich beeindruckend, auch für „Nicht-Ossis“. Natürlich gibt es für diejenigen, die selbst in der DDR aufgewachsen sind noch Nuancen, die sich anderen nicht erschließen. Die genannten DDR-Produkte sagen mir nichts, da ich nie in die DDR durfte. Meine Eltern haben wohl mit ihrer Verweigerung des Zwangsumtauschs die DDR nicht gestürzt, aber doch sehr mein Bewußtsein geprägt, daß die DDR ein völlig fremder Staat ist. Daher verblüfft es mich immer wieder, daß Szenen der Wiedervereinigung mit Tränen in die Augen treiben. Die Bedeutung dieses historischen Ereignisses für so viele Menschen und ihre Schicksale, die es wohl damals noch viel weniger glauben konnten als ich, daß sie auf einmal nur mal so gucken konnten, wie es auf der anderen Seite der Mauer bzw. Straße aussieht. Doch ist dies meine persönlicher Gänsehautmoment, in einer Saga voller unglaublicher Momente. Johannes, der anfangs für die DDR und Ideen brennt, wird mit den Jahren ernüchtert. Er glaubt noch an dieselben Ideale, sieht sie in diesem Staat aber nicht mehr verwirklicht. Seine Frau Elisabeth betrachtet die Strukturen um sich herum schon viel früher kritisch. Charlotte ihre Älteste vertraut bis zum Schluss der DDR und kann auch nach der Maueröffnung nicht an die Gräueltaten glauben, von denen sie später erfährt. Ihre Schwester Marlene ist hingegen ein Mensch, der Freiheit braucht und an dem System zerbricht, eine sehr gelungene Gegenüberstellung, wobei es auch Menschen gibt, die sich einfach mit den Gegebenheiten arrangierten. Da es eine Geschichte über mehrere Jahrzehnte und mehrere Generationen ist, gibt es noch sehr viel mehr starke Charaktere, aber ich will nicht zu viel vorwegnehmen. Durch die Erzählweise mit Rückblicken, war ich daher anfangs von der Vielzahl der Personen überfordert und hätte mir ein Personenverzeichnis gewünscht, da ich nicht so lange an einem Stück hören konnte. Doch selbst als ich gegen Ende auf längeren Autofahrten die 2. MP3 in einem durch hörte, kam ich immer wieder ins Grübeln, wer z.B. Konrad war. Konrad und Anton habe ich zu Beginn ständig verwechselt, wobei Anton eine Hauptperson ist und Konrad eher eine Randerscheinung.

Beate Rysopp liest diese Saga sehr ausdrucksstark mit sehr angenehmer Stimme. Sie ist für mich wirklich eine wunderbare Neuentdeckung als Sprecherin.

Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren und hat ihre Kindheit in der DDR verbracht. Daher erstaunt es mich, daß sie, die sie nur ihre Kindheit dort verbrachte, so stark von diesen Erfahrungen geprägt wurde. Meine Freunde, die alle etwas älter sind als sie, sagen alle, daß die Kindheit dort eigentlich schön war, es gab so wenige Autos, daß man auf der Straße spielen konnte und eine Mikrowelle brauchten sie auch nicht. Die Probleme begannen meist, wenn sie älter wurden, so konnten die Jahrgänge bis 1972 ohne Parteibuch nicht studieren, sondern mußten eine Lehre beginnen, weil sie kein Abitur machen konnten. Insofern, trotz ihres „jungen“ Alters, schafft sie es eindrücklich die inneren Dilemmata zu schildern, in denen sich eine Familie, aus so unterschiedlichen Charakteren befindet.

Großes Kino für die Ohren, emotional, bewegend, umfasst es viele Jahre deutsch-deutscher Geschichte, die wir nie vergessen mögen.

Einen halben Sternabzug nehme ich für das fehlende Personenverzeichnis vor, denn die ungekürzte Lesung umfasst 12 h, viel Zeit für viele Charaktere, die man schon mal verwechseln kann. 4,5 von 5 Sternen.