Die Stadt des Zaren, Martina Sahler, List
1703 mit dem ersten Spatenstich zur Errichtung von Sankt
Petersburg, als dem Tor Russlands zur Ostsee und dem Beginn einer russischen
Seemacht, setzt sich Zar Peter der Große ein urbanes Denkmal, daß bis heute
noch Bewunderung hervorruft.
Doch ähnlich wie der Charakter des Zaren, war auch die
Stadtgründung zweischneidig. Diese neue Stadt eröffnete neue Möglichkeiten und
Chancen, sie sollte Russland Aufklärung und Erkenntnis bringen. Doch die, die
die schwersten Arbeiten verrichteten, die Kriegsgefangenen und Leibeigenen
hatten nichts von diesen neuen Möglichkeiten zu Ruhm und Reichtum zu gelangen.
Vor allem Ausländer, die meist auf Einladung des Zaren
persönlich kamen, wußten diese Chancen zu nutzen. Aus der Moskauer
Ausländervorstadt zieht die deutsche Arzt Familie Albrecht an die Newa, weil
die Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung und Bildungschancen (eventuelle
könnte die wissbegierige jüngste Tochter dort sogar studieren) gerade die abenteuerlustige
Mutter Frieda und die jüngere Tochter Paula reizen. Doch stellen sie alsbald
fest, daß sie die Stadt erst mal dem Flussschlamm und den Sümpfen entringen
müssen. Es gibt noch keine Schulen, keine Krankenhäuser, sie sind echte
Pioniere. Nach und nach folgen noch europäische Handwerker wie die
holländischen Zimmersleute van den Linden, Architekten aus Florenz und langsam
beginnt auch russischer Adel in der Hoffnung auf einen festen Platz in der
Entourage des Zaren in die Stadt zu ziehen.
Der Roman schildert die Stadtgründung aus der Perspektive
einer Vielzahl seiner Bewohner und über Jahre hinweg. Er ist sehr hochwertig
ausgestattet, mit einer Karte des damaligen Russlands und Europas, sowie einer
Übersicht der verschiedenen Inseln, St. Petersburgs. Ein Personenregister führt
sämtliche Charaktere des Buches auf (mit Ausnahme des Apothekers, aber den
bekommt man gut auf die Reihe, da er einzeln in die Geschichte eingeführt wird
und nicht mit anderen Charakteren gleichzeitig). Als ich mit diesem begann,
dachte ich zuerst, daß ich wohl heillos in dem Personengewirr versinken würde.
Dem ist nicht so, denn die Charaktere werden nach und nach behutsam eingeführt,
so daß der Leser nicht überfordert wird. Anders als z.B. bei Tolstoi sind die
Personen auch leicht anhand der Namen zu identifizieren und werden nicht mit
diversen russischen Koseformen, die für Europäer völlig undurchsichtig sind,
angesprochen. Das Personenverzeichnis ist daher noch nicht mal erforderlich,
sofern man zügig liest und nicht länger pausiert. Da der Schreibstil sehr
ansprechend ist, die Einzelschicksale wirklich sensibel erzählt und der Plot
für mich nicht vorhersehbar (aber auch nicht unlogisch), ist es mir auch trotz
dem Umfangs des Buches nicht schwer gefallen, das Buch zügig zu lesen.
Was mir gut gefiel, ist dass ich neben dem Einblick in das
Leben und die zwiespältige Persönlichkeit Peter des Großen, auch sonst
interessantes Wissen über die damalige Zeit und Lebensweise vermittelt bekam.
Dass an Russland das Zeitalter der Aufklärung quasi spurlos vorbeigezogen ist
und Zar Peter es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht hat, Russland von
seinem Aberglauben und seiner in altmodischen Traditionen verharrenden
Lebensweise fern von Wissenschaft und neuen Erkenntnissen zu befreien und an
Europa anzugleichen. Besonders die Niederlande, dieses kleine Land, dicht am
Meer und so flach, hat es trotz seiner geringen Größe durch Bildung und
Raffinesse zu erheblicher Bedeutung gebracht. Zar Peter entlohnte auch die von
ihm herbei gerufenen Ausländer. Wer auf seine Einladung hin kam, der hatte ein
festes Grundeinkommen. Gut, daß mag jetzt an meinem Beruf liegen, daß ich das
faszinierend finde, aber derartige kleine Infos, die das Leben im damaligen St.
Petersburg plastischer gestalten, gibt es zu ganz vielen verschiedenen
Lebensbereichen.
So abwechslungsreich wie das Leben ist, ist dieser Roman
auch mit Liebesgeschichten gefüllt, mal mehr mal weniger glückliche, aber
durchaus berührend. Liebhaber von erotischer Literatur kommen hier aber nicht auf
ihre Kosten. Auf Kitsch und Clichées wird verzichtet und dennoch fand ich es
sehr berührend. Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Auch wenn die
damaligen Lebensumstände unseren Komfort nicht boten und das Leben der
Leibeigenen mehr als nur armselig war, verzichtet die Autorin auf übertrieben
drastische Darstellungen der hygienischen Umstände (das stößt mich bisweilen
bei Mittelalterromanen ab). Am Ende kann man sich den weiteren Lebensweg der
Protagonisten denken, es ist klar, wer in der neuen Stadt sein Glück gefunden
hat und wer daran zerbrochen ist. Eine wirklich runde Sache.
Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an die Stadt der
Träume von Peter dem Großen. Daher wird die Geschichte durch eine Vielzahl von
Einzelschicksalen geschildert, was sehr interessant und bisweilen sehr
spannend, traurig oder einfach wunderschön ist. Es beginnt mit der
Grundsteinlegung und endet mit der Ernennung zur Hauptstadt des Russischen
Reiches 1712. Diesen Zeitraum umfasst auch die Zeittafel, die nicht bis zu Zar
Peters Tod geht, aber daß er heute nicht mehr lebt, ist uns allen ja klar. Aber
St. Petersburg steht noch immer, allen Unkenrufen und Naturkatastophen zum
Trotz, erstrahlt es immer noch in seinem Glanz und fasziniert im Sommer mit
seinen weißen Nächten. Allen Regimen die es überdauert hat zum Trotz.
Ein toller Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle mit 5
von 5 Sternen.
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