Sonntag, 28. April 2019

Warum ADHS keine Krankheit ist – eine Streitschrift, Amrei Wittwer, Hirzel Verlag



Warum ADHS keine Krankheit ist – eine Streitschrift, Amrei Wittwer, Hirzel Verlag

Dies ist kein Sachbuch, daß einem die heilsbringende Erleuchtung verspricht, sondern ganz klar eine Streitschrift, was für mich bedeutet, daß es eben darum geht andere Wege zu gehen und bewußt eine nicht immer bei allen beliebte Position zu beziehen.

Hier wird die These vertreten, daß ADHS keine Krankheit ist, sondern ein Label für eine Vielzahl von Symptomen, mit teilweise unterschiedlichen Ursachen, die aber eher psychischer Natur sind, oder verhaltensbedingt, aber eben nicht pathologisch. Sie erklärt sehr gut, warum ähnliche Symptome nicht gleich ein Krankheitsbild ausmachen. Gegen diese Symptome zückt der Arzt oder Therapeut gerne den Rezeptblock und verschreibt dem betroffenen Kind ein Medikament. Doch was sind das für Medikamente die dort verschrieben werden und die auch tatsächlich verschreibungspflichtig sind? Helfen sie wirklich, oder gibt es noch andere Möglichkeiten? Kritisch hinterfragt sie auch die Diagnosemethodik, die auch meinem hauseigenen Fachleiter der Sonderpädagogik Bauchschmerzen bereitet.

Die Autorin Dr. Amrei Wittwer ist Pharmakologin, d.h. sie kommt gerade aus dem Bereich, der viel Geld mit der vermeintlich schnellen und einfachen Hilfe verdient. Mir gefällt sehr gut, daß sie mit fundiertem Hintergrundwissen hinterfragt und erläutert, was immer mehr Kinder verschrieben bekommen. Es handelt sich nämlich um stark abhängig machende verschreibungspflichtige Betäubungsmittel (wobei ich nicht weiß, ob man nicht sogar eines Btm-Rezeptblockes bedarf um diese Substanzen zu verordnen). Das hat zur Folge, daß man mit Kindern auf dieser Medikation, nicht einfach mal so in den Urlaub fahren darf, weil man die Medikamente nicht einfach mit über die Grenze nehmen darf. In den Urlaubsländern werden diese Wirkstoffe bisweilen sehr viel kritischer betrachtet (nicht in den USA). Also muß man die Medikation vor dem Urlaub langsam ausschleichen, da es andernfalls zu starken Entzugssymptomen kommt. Aber will man wirklich, daß das eigene Kind so etwas bekommt? Es sind ja eigentlich auch Betäubungsmittel für Erwachsene, nur eben in geringerer Dosierung und wenn ich da an meine Arnikasalbe denke, auf der steht: „nicht für Kinder unter 12 Jahren“ (da keine ausreichenden Tests durchgeführt wurden), oder auch beim Spitzwegerichhustensaft.... beide finde ich persönlich vertrauenserweckender.

Was mich bei dem Thema kritisch stimmt ist folgendes: Ich lese immer wieder in Gutachten zu Kindern, daß sie im Alter von XY Jahren unter ADHS litten, und plötzlich anscheinend nicht mehr. Komisch, ich bekomme immer von Ärzten zu hören, daß ich alles mit ins Grab nehmen würde, auch wenn es mich nicht umbringt ;) Ich muß aber auch zugeben, daß diese Diagnose nicht immer stimmte und bei Verhaltensänderung einige Symptome wieder verschwinden. Dennoch, wenn ich mir die Familien von betroffenen Kindern anschaue, drängt sich mir, ebenso wie der Autorin oft auch der Gedanke auf, daß es sicherlich auch andere Möglichkeiten gibt,  den Kindern zu helfen, z.B. auch mit einer Verhaltenstherapie für die gesamte Familie.

Oft erlebe ich in meinem Besprechungszimmer (ich bin Juristin), daß mich Eltern informieren, ihr Kind sei hyperaktiv und es sitzt wie angetackert auf dem Stuhl und spielt mit dem Handy oder starrt Löcher in die Luft. So still sitze ich bei keinem Arzt im Wartezimmer! Das stimmt mich sehr nachdenklich. Bei einigen Kindern frage ich mich manchmal auch, ob nicht auch pränatale Schädigungen vorliegen. Ich teile also einige der Bedenken der Autorin und finde es sehr hilfreich sich mit diesen auseinander zu setzen. Mein Mann war Zivi in einer Sonderschule und dort bekamen viele Kinder Ritalin, da wollte er es auch mal testen und nahm die halbe Dosis (natürlich ohne Verschreibung). Er meinte die Wirkung sei der Hammer, er wäre nicht mehr fahrradfahrtauglich gewesen! Wie kann solch starke Medikamente in diesen Mengen an Kinder verabreichen? Ich stimme der Autorin zu, daß ich auch denke, daß man da nach alternativen Wegen suchen sollte. Die Autorin räumt auch ein, daß es einige extreme Fälle gibt. So wurde mir berichtet, daß es auf der Klassenfahrt der Jüngsten nachts zu Problemen kam, weil ein Junge aus der Parallelklasse, der entsprechende Medikamente bekommt, nachts ohne Medikation auskommt. Im Schlaf hat er so gezappelt und geredet und Geräusche von sich gegeben, daß die anderen Jungen des Zimmers nicht schlafen konnten und durch die nächtlichen Flure geisterten. So einem Kind ist sicherlich nicht einfach nur mit konsequenter Erziehung geholfen. Interessant finde ich, daß in diesem Fall auch der Vater und die Geschwister diese Symptomatik aufzeigen.

Mir gefällt sehr gut, daß Amrei Wittwer für das Problem sensibilisiert und ihre Lösungsvorschläge auch keine Patentlösung sind, sondern sehr arbeitsintensiv für alle Betroffenen und das nicht nur für das Kind, das diese Symptome zeigt. Sie schreibt sehr klar und sehr gut verständlich, ohne in plakative Belletristik zu verfallen. Es geht hier nicht um Effekthascherei, sondern die Sorge um das Kindeswohl.

Auch weckt sie Verständnis für die oft überforderten Lehrer. Inklusion wird auch oft so verstanden, daß auch solche Kinder in Regelschulklassen integriert werden, ohne zusätzliche Ausbildung der Lehrer, ohne die Klassengröße zu reduzieren oder weitere Hilfskräfte für die Klasse. So kann Inklusion nicht funktionieren, so werden sich die Gräben nur vergrößern und Ausgrenzung verstärken.

Ich hoffe, daß viele Menschen in Entscheidungspositionen in den Bezirksregierungen, ADD, Bildungsministerien und Familienministerien, ebenso wie Lehrer, Erzieher und Eltern dieses Buch lesen und über alternative Umgangsmöglichkeiten zu verschreibungspflichtigen Betäubungsmitteln als „Therapie“ nachdenken. Die hier genannten Lösungsvorschläge sind arbeits- und zeitintensiv und werden daher wohl in der breiten Masse gemieden.

Für komplexe Probleme gibt es keine einfachen Lösungen, deswegen beginnt man am besten alsbald über mögliche Lösungsansätze nachzudenken und zu diskutieren. Ich empfinde diese Streitschrift als sehr anregend.

Ich bedanke mich ganz herzlich beim Hirzel Verlag für die freundliche Überlassung eines Rezensionsexemplars.

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