Warum ADHS keine Krankheit ist – eine Streitschrift, Amrei Wittwer, Hirzel
Verlag
Dies ist kein Sachbuch, daß einem die heilsbringende Erleuchtung
verspricht, sondern ganz klar eine Streitschrift, was für mich bedeutet, daß es
eben darum geht andere Wege zu gehen und bewußt eine nicht immer bei allen
beliebte Position zu beziehen.
Hier wird die These vertreten, daß ADHS keine Krankheit ist, sondern ein
Label für eine Vielzahl von Symptomen, mit teilweise unterschiedlichen Ursachen,
die aber eher psychischer Natur sind, oder verhaltensbedingt, aber eben nicht
pathologisch. Sie erklärt sehr gut, warum ähnliche Symptome nicht gleich ein
Krankheitsbild ausmachen. Gegen diese Symptome zückt der Arzt oder Therapeut
gerne den Rezeptblock und verschreibt dem betroffenen Kind ein Medikament. Doch
was sind das für Medikamente die dort verschrieben werden und die auch
tatsächlich verschreibungspflichtig sind? Helfen sie wirklich, oder gibt es
noch andere Möglichkeiten? Kritisch hinterfragt sie auch die Diagnosemethodik,
die auch meinem hauseigenen Fachleiter der Sonderpädagogik Bauchschmerzen
bereitet.
Die Autorin Dr. Amrei Wittwer ist Pharmakologin, d.h. sie kommt gerade aus
dem Bereich, der viel Geld mit der vermeintlich schnellen und einfachen Hilfe
verdient. Mir gefällt sehr gut, daß sie mit fundiertem Hintergrundwissen
hinterfragt und erläutert, was immer mehr Kinder verschrieben bekommen. Es
handelt sich nämlich um stark abhängig machende verschreibungspflichtige
Betäubungsmittel (wobei ich nicht weiß, ob man nicht sogar eines
Btm-Rezeptblockes bedarf um diese Substanzen zu verordnen). Das hat zur Folge,
daß man mit Kindern auf dieser Medikation, nicht einfach mal so in den Urlaub
fahren darf, weil man die Medikamente nicht einfach mit über die Grenze nehmen
darf. In den Urlaubsländern werden diese Wirkstoffe bisweilen sehr viel
kritischer betrachtet (nicht in den USA). Also muß man die Medikation vor dem
Urlaub langsam ausschleichen, da es andernfalls zu starken Entzugssymptomen kommt.
Aber will man wirklich, daß das eigene Kind so etwas bekommt? Es sind ja
eigentlich auch Betäubungsmittel für Erwachsene, nur eben in geringerer
Dosierung und wenn ich da an meine Arnikasalbe denke, auf der steht: „nicht für
Kinder unter 12 Jahren“ (da keine ausreichenden Tests durchgeführt wurden),
oder auch beim Spitzwegerichhustensaft.... beide finde ich persönlich
vertrauenserweckender.
Was mich bei dem Thema kritisch stimmt ist folgendes: Ich lese immer wieder
in Gutachten zu Kindern, daß sie im Alter von XY Jahren unter ADHS litten, und
plötzlich anscheinend nicht mehr. Komisch, ich bekomme immer von Ärzten zu
hören, daß ich alles mit ins Grab nehmen würde, auch wenn es mich nicht
umbringt ;) Ich muß aber auch zugeben, daß diese Diagnose nicht immer stimmte
und bei Verhaltensänderung einige Symptome wieder verschwinden. Dennoch, wenn
ich mir die Familien von betroffenen Kindern anschaue, drängt sich mir, ebenso
wie der Autorin oft auch der Gedanke auf, daß es sicherlich auch andere
Möglichkeiten gibt, den Kindern zu
helfen, z.B. auch mit einer Verhaltenstherapie für die gesamte Familie.
Oft erlebe ich in meinem Besprechungszimmer (ich bin Juristin), daß mich
Eltern informieren, ihr Kind sei hyperaktiv und es sitzt wie angetackert auf
dem Stuhl und spielt mit dem Handy oder starrt Löcher in die Luft. So still
sitze ich bei keinem Arzt im Wartezimmer! Das stimmt mich sehr nachdenklich.
Bei einigen Kindern frage ich mich manchmal auch, ob nicht auch pränatale
Schädigungen vorliegen. Ich teile also einige der Bedenken der Autorin und
finde es sehr hilfreich sich mit diesen auseinander zu setzen. Mein Mann war
Zivi in einer Sonderschule und dort bekamen viele Kinder Ritalin, da wollte er
es auch mal testen und nahm die halbe Dosis (natürlich ohne Verschreibung). Er
meinte die Wirkung sei der Hammer, er wäre nicht mehr fahrradfahrtauglich
gewesen! Wie kann solch starke Medikamente in diesen Mengen an Kinder
verabreichen? Ich stimme der Autorin zu, daß ich auch denke, daß man da nach
alternativen Wegen suchen sollte. Die Autorin räumt auch ein, daß es einige
extreme Fälle gibt. So wurde mir berichtet, daß es auf der Klassenfahrt der
Jüngsten nachts zu Problemen kam, weil ein Junge aus der Parallelklasse, der
entsprechende Medikamente bekommt, nachts ohne Medikation auskommt. Im Schlaf
hat er so gezappelt und geredet und Geräusche von sich gegeben, daß die anderen
Jungen des Zimmers nicht schlafen konnten und durch die nächtlichen Flure
geisterten. So einem Kind ist sicherlich nicht einfach nur mit konsequenter
Erziehung geholfen. Interessant finde ich, daß in diesem Fall auch der Vater
und die Geschwister diese Symptomatik aufzeigen.
Mir gefällt sehr gut, daß Amrei Wittwer für das Problem sensibilisiert und
ihre Lösungsvorschläge auch keine Patentlösung sind, sondern sehr
arbeitsintensiv für alle Betroffenen und das nicht nur für das Kind, das diese
Symptome zeigt. Sie schreibt sehr klar und sehr gut verständlich, ohne in
plakative Belletristik zu verfallen. Es geht hier nicht um Effekthascherei,
sondern die Sorge um das Kindeswohl.
Auch weckt sie Verständnis für die oft überforderten Lehrer. Inklusion wird
auch oft so verstanden, daß auch solche Kinder in Regelschulklassen integriert
werden, ohne zusätzliche Ausbildung der Lehrer, ohne die Klassengröße zu
reduzieren oder weitere Hilfskräfte für die Klasse. So kann Inklusion nicht
funktionieren, so werden sich die Gräben nur vergrößern und Ausgrenzung
verstärken.
Ich hoffe, daß viele Menschen in Entscheidungspositionen in den
Bezirksregierungen, ADD, Bildungsministerien und Familienministerien, ebenso
wie Lehrer, Erzieher und Eltern dieses Buch lesen und über alternative
Umgangsmöglichkeiten zu verschreibungspflichtigen Betäubungsmitteln als
„Therapie“ nachdenken. Die hier genannten Lösungsvorschläge sind arbeits- und
zeitintensiv und werden daher wohl in der breiten Masse gemieden.
Für komplexe Probleme gibt es keine einfachen Lösungen, deswegen beginnt
man am besten alsbald über mögliche Lösungsansätze nachzudenken und zu
diskutieren. Ich empfinde diese Streitschrift als sehr anregend.
Ich bedanke mich ganz herzlich beim Hirzel Verlag für die freundliche
Überlassung eines Rezensionsexemplars.
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