Der Fall des verschwundenen Lords – Ein Enola Holmes Krimi, Nancy Springer,
Knesebeck Verlag
Vor 10 Jahren verstarb der Vater des berühmten Privatdetektivs Sherlock
Holmes und seines bürokratischen Bruders Mycroft. So lange schon waren die zwei
nicht mehr auf dem Familiensitz Ferndall Hall. Ihre Vierzehnjährige Schwester
Enola ist fest davon überzeugt, daß es daran liegt, dass sie sich für sie
schämen, die Schande, die ihre Eltern so spät bekamen, immerhin war ihre Mutter
damals schon 50! Doch als an ihrem Geburtstag ihre Mutter, eine freigeistige
Künstlerin und Frauenrechtlerin, spurlos verschwindet, ohne ihre Tochter
mitzunehmen oder ihr einen Brief zu hinterlassen, ruft sie ihre Brüder herbei.
Nicht nur Enola staunt, als ihre Brüder ihr offenbaren, warum sie sich solange
nicht haben blicken lassen, auch ihre Brüder staunen, über den Zustand des
Gutes, des Herrenhauses, sowie des ungebändigten Zustands der Schwester. Ganz
eindeutig muß Enola in ein Internat, doch dass sieht diese anders, sie muß ihre
Mutter finden. Während Mycroft ihre Internatsgarderobe schneidern lässt, plant
sie ihre Flucht und findet dabei immer wieder versteckte Hinweise ihrer Mutter,
geheime Botschaften und Codes, speziell an sie gerichtet. Um ihre Spuren vor
ihren logisch rationalen Brüdern zu verschleiern, geht sie bewußt planlos vor
und stolpert so, in den Fall eines spurlos verschwunden Zwölfjährigen Lords,
der die Presse in Atem hält. Da kann sie
ihre Familienspürnase leider nicht bremsen und geht der Sache nach.
Enola ist ein interessanter Charakter, ebenso wie ihre freigeistige Mutter,
die sie so ganz anders erzogen hat, als es für Töchter der besseren
Gesellschaft damals üblich war. Während dies reflektiert wird, ebenso wie die
Eigenheiten und Schrullen von Lady Eudoria Holmes, wird einem doch deutlich wie
weit die Frauenrechte inzwischen gediehen sind. Vieles was für uns heute
selbstverständlich ist, war 1888 völlig undenkbar. Da es ein Jugendbuch ist,
ist es auch unglaublich wichtig, dies den jungen Leserinnen vor Augen zu
führen. Frauen wie Eudoria Holmes haben dafür gekämpft und einiges an Kritik
und gesellschaftlicher Ächtung hingenommen, damit wir heute die Wahl haben zu
sein wer wir sind und zu werden, wer wir wollen und nicht zwangsläufig Ehefrau
und Mutter oder eben nicht nur. Das ist zwar wichtig und interessant, nimmt
aber auch viel Raum in dem Roman ein, ebenso wie die Schilderung der Personen
und Gegebenheiten, so daß erst auf S. 100 der titelgebende Fall beginnt. Das
empfinde ich als ein typisches Problem von Reihenauftaktbänden, daß eben sehr
viel Zeit und Seiten auf die Einführung in diese neue fremde Welt investiert
wird. Das ist zwar für die folgenden Bände notwendig, sollen die Charaktere nicht
wie bloße Abziehbilder wirken, aber für einen Krimi lässt der Fall schon sehr
lange auf sich warten.
Als der Kriminalfall des verschwundenen Lords dann endlich begann, war ich
etwas enttäuscht, daß er so schnell auch schon wieder vorbei war, aber das war
ein Trugschluss. Denn das Blatt wendete sich erneut.Was später kam war wirklich
unglaublich spannend, auch wenn es nicht so schwer zu erraten war, wer denn
dahinter steckte. Das fand ich etwas schade. Sehr spannend fand ich aber immer
wieder die Codes, die Lady Holmes für Enola hinterließ (so kann man ihren
Vornamen auch rückwärts erlesen und erhält dann? Jawoll, ein Gefühl, daß sie
oft überkommt). Wie die Codes
funktionieren, wird ausführlich erklärt. Auch die Frage, ob Enola letztendlich
von ihren Brüdern erwischt wird und im Internat landet, ist immer und
allgegenwärtig.
Nancy Springer schreibt flüssig und sehr anschaulich z.B. über die Qualen
die die damalige Damenmode nicht nur durch ihre sperrigen Korsetts verursachte.
Auch die gesellschaftlichen Probleme, die Dickens in seinen
Gesellschaftsromanen anprangert, wie die Armut und Verelendung ganzer
Stadtviertel, werden einen durch Enola und ihren kleinen Lord sehr plastisch
vor Augen geführt. Vom Ausdruck und dem Erfahrungshorizont her, kann Nancy Springer
sich hervorragend auf ihr junges Publikumab 12 Jahren einstellen. So bereichern
sie ihren Horizont, mit einem nach Anlaufschwierigkeiten sehr spannenden
Kriminalfall. Die Reihe ist in der amerikanischen Heimat der Autorin so
erfolgreich, daß sie mit Millie Bobby Brown („Stranger Things“) in der Rolle
der jungen Detektivin verfilmt wird. Nächstes Jahr soll der Film dann in die
Kinos kommen.
Auf den zweiten Band, der direkter zur Sache kommen dürfte, bin ich schon
jetzt gespannt und werde die Reihe sicherlich weiterverfolgen.
Ich bedanke mich ganz herzlich beim Knesebeck Verlag für dieses
Rezensionsexemplar, auf das ich schon so gespannt war.
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