Und dann kamst du, Heike Abidi, Oetinger Taschenbuch
Claire und ihr Zwillingsbruder Colin scheinen auf der
Sonnenseite des Lebens geboren zu sein. Ihre Eltern betreiben eine erfolgreiche
Arztpraxis und so unterschiedlich sie auch sind, gemeinsam scheint ihnen alles
zu gelingen. Daher wollen sie auch nach dem Abitur gemeinsam ins Medizinstudium
starten, um die elterliche Praxis übernehmen zu können. Doch direkt nach dem
glanzvollen Abitur zieht es den wagemutigen, lebenslustigen Colin zum
Surfurlaub nach Hawaii, mit tödlichem Ausgang. Claire zieht sein Tod den Boden
unter den Füßen weg. Ihre andere Hälfte fehlt, ihr Ausgleich zu ihrem
grüblerischen, zögerlichen Ich. Sie hält es zu Hause nicht mehr aus und zieht
spontan in eine Zweck-WG am Uniort. Sie betäubt sich durch Arbeit in einer Bar
und lässt sich treiben, sofern sie nicht in sich selbst ertrinkt. Doch eines
Nachts, nach einer Schicht in der Bar, versinkt sie für
Sekundenbruchteile in dem traurigen Blick eines Unbekannten, der seinen
Rucksack im Bus liegen lässt. Sie durchsucht den Inhalt nach einem Hinweis auf
seine Identität und findet ein gerade angefangenes Tagebuch. Der Fremde heißt
Samuel und bekam gerade von seiner Traumfrau das Herz gebrochen. Sie beschließt
ihn zu finden, da sie in ihm ihren Seelenverwandten gefunden zu haben glaubt.
Eine Suche, die sich als gar nicht so einfach herausstellt und zu ihrer Mission
wird.
Als ich den Klappentext las, dachte ich, dass so ein Plot auch
richtig kitschig in die Hose gehen kann, aber bislang hat mich Heike Abidi noch
nie durch triefige Geschichten enttäuscht. So war es auch diesmal, denn trotz
des Titels ist es eine Geschichte über Trauerbewältigung und Selbstfindung.
Durch ihre Suche bekommt Claires Leben endlich wieder einen Fokus und weil sie
sich schwieriger als gedacht gestaltet, muss sie sich zwangsweise für neue Wege
und neue Menschen öffnen. Dabei wird sie öfters als gedacht überrascht, auch
durch sich selbst, aber auch von ihren Mitbewohnern. Wenn man den Menschen um
sich herum die Chance gibt, sie wirklich kennenzulernen, können sie ganz
erstaunliche Charakterzüge offenbaren.
Sehr gut hat mir gefallen, dass Claire mit 19 alles andere als
perfekt und eine gereifte Persönlichkeit ist. Sie kennt ihre Schwächen und
nimmt sie als gegeben an, bis sie lernt, dass doch viel mehr in ihr steckt als
sie dachte, und vieles was sie bislang nur Colin zutraute, kann auch sie. Nicht
alle seine vermeintlichen Stärken waren dies auch, manchmal waren es doch eher
Schwächen. Auf der Suche nach einem neuen Sinn geht sie ihre Stärken und
Schwächen im Geiste durch. Da musste ich doch grinsen, wer so viele Schwächen
hat, wie sie zu glauben meint, bekommt garantiert nicht auf Anhieb einen
Studienplatz in Medizin (eine 17 jährige Verwandte von mir, musste sich wegen
des schlechten Abischnitts von 1,2 für 10 Jahre als Landärztin verpflichten, um
einen Studienplatz bei den “schlechten“ Noten zu bekommen). Aber
Claire geht es schlecht, alles fühlt sich grau an, da traut sie sich nicht viel
zu. Ihre Eltern können ihr keine große Stütze sein, ihr Verlust ist nicht
leichter. So findet sie Hilfe, da, wo sie nicht danach sucht. Das Glück kann
auch langsam und leise kommen, wo man es am wenigsten vermutet. Es ist ein
Seelenroadmovie, denn eigentlich spielt die ganze Geschichte innerhalb einer
namenlosen Unistadt, aber vor allem in Claires Seelenleben, das nach und nach
immer heller wird, bis sie wieder Lachen und das Leben genießen kann, ohne
ihren Zwillingsbruder zu verraten.
Erzählt wird aus Claires Perspektive. Dabei kommt man ihren
Gedanken und Gefühlen am nächsten, bei ihren Tagebucheinträgen, die immer von
süßen kleinen Sternchen, wie selbstgekritzelt geziert werden und durch
Kursivdruck gekennzeichnet sind. Das ist sehr schön durchdacht und umgesetzt.
Diese Einträge wirken sehr persönlich und unmittelbar und verarbeiten bisweilen
persönliche Erfahrungen der Autorin, die sich selbst einst für ein Studienfach
entschied, bei dem der spätere berufliche Nutzen nicht offensichtlich ist und
die sich selbst nie für eine Sportskanone hielt, bis sie mal anderen Sportarten
eine Chance gab. Diese Verarbeitung von eigenen Erfahrungen macht diese
Geschichte so glaubhaft und berührt. Dabei ist sie flüssig erzählt und
kurzweilig.
Eine sehr schöne und emotionale Reise zum Mittelpunkt der Seele
der jungen Protagonistin, die mir auch ein paar Tränen und Seufzer entrungen
hat.
Vielen lieben Dank an Heike Abidi und den Oetinger Verlag für mein
Rezensionsexemplar.
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