Mittwoch, 29. Januar 2020

Und dann kamst du, Heike Abidi, Oetinger Taschenbuch



Und dann kamst du, Heike Abidi, Oetinger Taschenbuch

Claire und ihr Zwillingsbruder Colin scheinen auf der  Sonnenseite des Lebens geboren zu sein. Ihre Eltern betreiben eine erfolgreiche Arztpraxis und so unterschiedlich sie auch sind, gemeinsam scheint ihnen alles zu gelingen. Daher wollen sie auch nach dem Abitur gemeinsam ins Medizinstudium starten, um die elterliche Praxis übernehmen zu können. Doch direkt nach dem glanzvollen Abitur zieht es den wagemutigen, lebenslustigen Colin zum Surfurlaub nach Hawaii, mit tödlichem Ausgang. Claire zieht sein Tod den Boden unter den Füßen weg. Ihre andere Hälfte fehlt, ihr Ausgleich zu ihrem grüblerischen, zögerlichen Ich. Sie hält es zu Hause nicht mehr aus und zieht spontan in eine Zweck-WG am Uniort. Sie betäubt sich durch Arbeit in einer Bar und lässt sich treiben, sofern sie nicht in sich selbst ertrinkt. Doch eines Nachts, nach einer Schicht in der Bar, versinkt sie für Sekundenbruchteile  in dem traurigen Blick eines Unbekannten, der seinen Rucksack im Bus liegen lässt. Sie durchsucht den Inhalt nach einem Hinweis auf seine Identität und findet ein gerade angefangenes Tagebuch. Der Fremde heißt Samuel und bekam gerade von seiner Traumfrau das Herz gebrochen. Sie beschließt ihn zu finden, da sie in ihm ihren Seelenverwandten gefunden zu haben glaubt. Eine Suche, die sich als gar nicht so einfach herausstellt und zu ihrer Mission wird.
Als ich den Klappentext las, dachte ich, dass so ein Plot auch richtig kitschig in die Hose gehen kann, aber bislang hat mich Heike Abidi noch nie durch triefige Geschichten enttäuscht. So war es auch diesmal, denn trotz des Titels ist es eine Geschichte über Trauerbewältigung und Selbstfindung. Durch ihre Suche bekommt Claires Leben endlich wieder einen Fokus und weil sie sich schwieriger als gedacht gestaltet, muss sie sich zwangsweise für neue Wege und neue Menschen öffnen. Dabei wird sie öfters als gedacht überrascht, auch durch sich selbst, aber auch von ihren Mitbewohnern. Wenn man den Menschen um sich herum die Chance gibt, sie wirklich kennenzulernen, können sie ganz erstaunliche Charakterzüge offenbaren.

Sehr gut hat mir gefallen, dass Claire mit 19 alles andere als perfekt und eine gereifte Persönlichkeit ist. Sie kennt ihre Schwächen und nimmt sie als gegeben an, bis sie lernt, dass doch viel mehr in ihr steckt als sie dachte, und vieles was sie bislang nur Colin zutraute, kann auch sie. Nicht alle seine vermeintlichen Stärken waren dies auch, manchmal waren es doch eher Schwächen. Auf der Suche nach einem neuen Sinn geht sie ihre Stärken und Schwächen im Geiste durch. Da musste ich doch grinsen, wer so viele Schwächen hat, wie sie zu glauben meint, bekommt garantiert nicht auf Anhieb einen Studienplatz in Medizin (eine 17 jährige Verwandte von mir, musste sich wegen des schlechten Abischnitts von 1,2 für 10 Jahre als Landärztin verpflichten, um einen Studienplatz bei den “schlechten“  Noten zu bekommen).  Aber Claire geht es schlecht, alles fühlt sich grau an, da traut sie sich nicht viel zu. Ihre Eltern können ihr keine große Stütze sein, ihr Verlust ist nicht leichter. So findet sie Hilfe, da, wo sie nicht danach sucht. Das Glück kann auch langsam und leise kommen, wo man es am wenigsten vermutet. Es ist ein Seelenroadmovie, denn eigentlich spielt die ganze Geschichte innerhalb einer namenlosen Unistadt, aber vor allem in Claires Seelenleben, das nach und nach immer heller wird, bis sie wieder Lachen und das Leben genießen kann, ohne ihren Zwillingsbruder zu verraten.
Erzählt wird aus Claires Perspektive. Dabei kommt man ihren Gedanken und Gefühlen am nächsten, bei ihren Tagebucheinträgen, die immer von süßen kleinen Sternchen, wie selbstgekritzelt geziert werden und durch Kursivdruck gekennzeichnet sind. Das ist sehr schön durchdacht und umgesetzt. Diese Einträge wirken sehr persönlich und unmittelbar und verarbeiten bisweilen persönliche Erfahrungen der Autorin, die sich selbst einst für ein Studienfach entschied, bei dem der spätere berufliche Nutzen nicht offensichtlich ist und die sich selbst nie für eine Sportskanone hielt, bis sie mal anderen Sportarten eine Chance gab. Diese Verarbeitung von eigenen Erfahrungen macht diese Geschichte so glaubhaft und berührt. Dabei ist sie flüssig erzählt und kurzweilig.
Eine sehr schöne und emotionale Reise zum Mittelpunkt der Seele der jungen Protagonistin, die mir auch ein paar Tränen und Seufzer entrungen hat.
 
Vielen lieben Dank an Heike Abidi und den Oetinger Verlag für mein Rezensionsexemplar.

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