Gertrude grenzenlos, Judith Burger, gelesen von Natalia Belitski,
Sauerländer Audio
Was für eine wunderbare Entdeckung, stellt dieses Hörbuch für mich dar!
Die Ina Damaschke wächst 1977 in der DDR auf und geht in die 6. Klasse. Sie
ist ein Aussenseiterin, auch wenn sie nicht genau weiß wieso. Ihre Mutter ist
die linientreue Chefsekretärin in einem VEB Fortschritt, ihren Vater kennt sie
nicht, über ihn wird auch nicht gesprochen. Gut, sie ist nicht die pünktlichste
und hat noch keine Auszeichnung als Altpapiersammlerin erhalten, aber ansonsten
fügt sie sich unproblematisch ins System ein. Doch dann kommt plötzlich kommt
Gertrude in ihre Klasse und mit ihr wird alles anders. Sie trägt ausschließlich
Westklamotten und schweigt, scheut jede Kontaktaufnahme. Irgendwie ist nicht
nur ihr Name völlig anders. Sie wird neben Ina gesetzt, die zu viel im
Unterricht geschwänzt hat. Doch langsam nähern sich die zwei an. Während
zwischen ihnen wahre, tiefe Freundschaft wächst und Gertrude als
Intellektuellen Kind Inas Horizont erweitert, wächst in Ina auch der Unwille
gegen die Enge des Systems der DDR. Ein System, daß ihr versucht die
Freundschaft mit Gertrude zu verbieten, weil konfessionell gebunden ist und
nicht bei den Pionieren. Als ihre Eltern es nicht mehr aushalten und einen
Ausreiseantrag stellen, wird es so richtig schlimm, für beide Kinder.
Weder Judith Burger noch Natalia Belitski waren mir bislang ein Begriff,
aber von nun an ist es anders, ihre Namen haben sich in mein Gedächtnis
eingebrannt.
Judith Burger erzählt diese Geschichte einer Aussenseiterfreundschaft
unglaublich einfühlsam und authentisch aus Sicht von Ina, die ihr Leben und ihr
Land anfangs noch so nimmt wie sie sind und erst durch die Freundschaft mit der
Tochter eines Schriftstellers alles was sie bisher kannte in Frage stellt. Der
Erzählstil ist gleichzeitig kindgerecht, als auch poetisch, denn Gertrude wurde
natürlich nach der berühmten Dichterin Gertrude Stein benannt, in deren Werk
sie Ina einführt. Inas Grübeleien über die Worte der Namensgeberin ihrer
Freundin, ist für Kinder viel persönlicher und ansprechender, als
Gedichtinterpretationen im Deutschunterricht. Dies liegt auch an der wunderbar
jungen und wandelbaren Stimme von Natalia Belitski. Hätte ich nicht auf der
Hülle ihr Bild gesehen und wüsste, daß
sie 1991 geboren wurde, wäre ich davon ausgegangen, daß es tatsächlich eine
kindliche Sprecherin wäre. Obwohl sie eine jüngere Rolle spricht, vermeidet sie
es gekonnt in nerviges Quietschen oder Piepsen zu verfallen, einen Fehler, den
ältere Sprecher oft machen, wenn sie Kinder sprechen. Sie spricht einfach so
frisch und unbefangen, wie Ina an die Welt herangeht.
Gertrude mit ihren Westklamotten fällt stets auf wie ein bunter Hund und
hat immer eine Sonderrolle. Von so einer erwartet jeder systemtreue Bürger
nichts und wenn, dann nur das Schlechteste. Dies wird Ina immer mehr bewußt.
Ihr wird auch immer klarer, weshalb sie ihre Lehrerin nicht leiden kann und die
neugierige Kassiererin im Konsum Frau Speckmantel. Auch Inas Mutter will nicht,
daß ihre Tochter mit Gertrude spielt. Das Verbot der Freundschaft wundert
Gertrude nicht, aber Ina fängt langsam an zu rebellieren. Diese kindliche
Rebellion, geht ans Herz. Denn Ina sieht nicht ein, warum man alle neuen
Schüler in die Klassengemeinschaft aufnehmen soll, aber eben nicht Gertrude.
Immer häufiger fällt Ina auf, daß alle sie zu beobachten scheinen und nicht nur
die Familie von Gertrude außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern noch mehr
Menschen, die Ina schon länger in ihr Herz geschlossen wird. Doch das System
ist unerbittlich, wenn man sich nicht ins Kollektiv einfügt. Da Kinder mit
Begriffen, wie dem Kollektiv eigentlich nichts anfangen können, werden diese im
ausführlichen Glossar erklärt, ebenso wie andere Begriffe z.B. Schlager-Süßtafel.
Für diejenigen, deren Eltern in der DDR aufwuchsen, dürften diese Begriffe
selbstverständlich sein, aber dieser Schokoladenersatzname, war mir nicht
bekannt. Neben den Begriffserklärungen und der Track-Liste enthält sie auch
Erklärungen zur Geschichte der DDR und dem Schicksal von Freidenkern in einer
für Kinder verständlichen Sprache.
Jede CD beginnt mit einem Lied der Pionierorganisation, die die DDR-Kinder,
in den SED-Nachwuchsorganisationen regelmäßig sangen. Die Aufnahmen klingen
sogar, wie alte Schallplattenaufnahme, wodurch es noch authentischer wirkt.
Außerdem soll ich noch etwas erwähnen, worauf meine älteste Tochter immer
großen Wert legt: Das Hörbuch wird von Steffen Groth angesagt und somit durch
eine andere Stimme, so daß man anschließend den Eindruck erhält man könne Ina
fast in den Kopf schauen.
Ein sehr emotionales und bewegendes Hörbuch gegen das Vergessen der
deutsch-deutschen Teilung. Während die Grenzposten vor Berlin immer mehr
verfallen und die Kinder nicht wirklich groß mehr beeindrucken, geht diese
Geschichte ins Herz und bleibt im Gedächtnis hängen. Es macht Kindern den Wert
ihrer Freiheit begreiflich.
Ein ganz besonders empfehlenswertes Hörbuch mit einer tollen Geschichte,
die meisterlich vertont wurde, so daß das Hörbuch eine eigene Qualität erhält.
Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Rezensionsexemplar, beim
Argon-Verlag das ganz definitiv noch oft gehört werden wird.
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