Patina – Was ich liebe und was ich hasse, Jason Reynolds, gelesen
von Jodie Ahlborn, Hörcompany, 4 CDs 5 h 8 min. leicht gekürzt
Patina ist gerade überall die Neue. In der Chester Academy, der
feinen Schule für fast nur weiße Schüler und in ihrem Laufteam den Defenders,
gefühlt aber auch in ihrem eigenen Leben. Sie ist 15 Jahre alt und vor fünf
Jahren starb plötzlich ihr geliebter Vater, er wachte morgens einfach nicht
auf! Dabei war er so voller Lebensmut, er war gerade dabei sich seinen Traum zu
erfüllen und Konditor zu werden! Ihrer Mutter ging es schon vorher nicht ganz
so gut, sie hatte Taubheitsgefühle in den Füßen. Aus Frust über den Verlust
futterte sie jede Menge süßes Gebäck und erst mussten ihr wegen der Diabetes die
Zehen amputiert werden, dann die Füße und schließlich die Unterschenkel. So
konnte sie ihre zwei Töchter nicht mehr alleine versorgen und Patti und ihre
kleine Schwester Maddy wurden liebevoll von ihren Paten, Onkel Toni, dem Bruder
ihres Vaters und seiner weißen Frau genannt Marmie aufgenommen. Beide geben
sich unglaublich viel Mühe mit den Mädchen, aber so ganz ohne ihre Freunde und
in der Gewissheit, dass es ihrer Ma immer schlechter geht, ist es nicht
einfach. Immerhin ist in ihrem Laufteam auch Sunny, der auch in ihrer alten
Schule war. Im Team sticht sie farblich nicht heraus, aber wird sie es auch
schaffen eine Teamplayerin für die 4 x 800 m – Staffel zu werden und sich unter
ihren aufgetakelten Mitschülerinnen zu behaupten?
Ich bin mir meiner Hautfarbe meistens nicht bewusst. In ihrer
Kindheit in ihrem „normalen“ Viertel und auf der staatlichen St. Barnabys
Middle School mit überwiegend farbigen Schülern, war dies für Patina auch kein
so großes Thema. Sie fühlte sich gut und vor allem normal. Sie waren nicht
reich, nicht arm, das Leben hielt für sie Chancen und Hoffnungen bereit. Nun
ist es ein ständiger Kampf. Ihr Kopf ist voll gestopft mit To-Do-Listen! Sie
will ihre Ma nicht enttäuschen, Onkel Toni und Marmie, die sie so liebevoll
aufnahmen, auch nicht, im Team will sie siegen und in der Schule den Anschluss
nicht verlieren. Das letztere ist ganz schön schwierig, wenn alle sich schon
seit dem Kindergarten kennen und strahlend weiß sind. Alle sind strahlend und
geschminkt, was ihre Ma ihr verbietet. In der Cafeteria sitzt sie stets allein
und nun sollen sie für Geschichte ein Gemeinschaftsprojekt bearbeiten zum
Thema: Frauen, die die Welt veränderten. Die ganze Gruppe bekommt eine
gemeinsame Note und sie braucht eine gute Note, damit alle auf sie stolz sind!
Ausgerechnet sie ist mit den hohlköpfigen Taylors und der für sie nicht
einschätzbaren Becca in einer Gruppe! Ihr Thema und das was sie dazu
herausfinden, finde ich übrigens sehr interessant und auch mir war nicht alles
bekannt, obwohl ich mich mit ihr bereits beschäftigt habe.
Für Patina ist das Leben nach einer glücklichen Kindheit zu einem
einzigen Kampf geworden. Dabei bekommt sie eine gute Ausbildung, hat ein
liebevolles Dach über dem Kopf, es fehlt ihr scheinbar an nichts, außer an
innerer Ruhe! Der Verlust hat sie stark geprägt und gezeichnet. Für mich
unvorstellbar. Patti bezeichnet ihr früheres Leben, als normal, sie waren nicht
arm und nicht reich. Scheinbar aber nicht gut medizinisch versorgt, ein ganz
typisches Problem der schwarzen Bevölkerung, nicht nur in Amerika, auch im
Vereinigten Königreich sind sie von den schweren Folgen von Corona ganz
besonders betroffen, wegen der schlechten medizinischen Grundversorgung. Dass
die Mutter wegen Diabetes schon in jungen Jahren die Beine verliert, für mich
hier unvorstellbar. Dann muss sie auch noch zweimal die Woche ins Krankenhaus
zur Dialyse!Ein Albtraum! Das Thema Diabetes in der schwarzen Bevölkerung geht
derzeit oft durch die Medien, keine ausreichende Versicherung, Obama Care soll
abgeschafft werden... Aber hier kam ich ins Grübeln. Wenn sie sich kein Insulin
leisten kann, wer bezahlt dann die teure Dialyse und die Amputationen? Das wird
leider überhaupt nicht angesprochen. Vielleicht war dies für den Autor so
selbstverständlich und normal, dass er es nicht der Erwähnung wert fand,
vielleicht fiel dies den geringen Kürzungen zum Opfer, vielleicht wurde es für
die Zielgruppe als zu langweilig eingestuft?
Mich würde es brennend interessieren, das Gesundheitssystem finde ich
spannend.
Patina wächst völlig anders auf als Ghost, viel behüteter und doch
auch voller Elend. Ihre Normalität, ist sicherlich nicht die meiner blonden
Töchter. Für Patina ist Leben ein Kampf und jetzt kämpft sie gerade mit sich.
Sie ist das Kämpfen so gewohnt, dass das Spielerische fehlt, sie ist kein
Teamplayer, ein Versorger ihrer Schwester ja, aber wenn sie verliert, kennt sie
keine Verwandten mehr! Selbst der zweite Platz ist kein Sieg, sondern eine
Niederlage. Ihr Trainer erkennt es und nimmt sie hart heran. Dabei greift das
Trainerteam zu ungewöhnlichen und für die Jugendlichen peinliche Maßnahmen.
Doch sie wirken!
Pattis Leben ist für mich unvorstellbar. Wenn was ist, geht man
zum Arzt. Medikamente, die man benötigt, sind bezahlbar. Elite-Schulen nur für
einen Teil der Bevölkerung, haben wir hier fast gar nicht. Für mich ist es wohl
ebenso fremd, wie Ghosts täglicher Kampf ums Überleben. Patti kämpft darum jung
zu sein. Apropos Ghost, seine Geschichte endete vor seinem großen Lauf, was ich
ziemlich frustrierend fand, hier erfährt man, wie er endete. Ich war sehr froh,
dass dieser Erzählstrang wieder aufgegriffen wurde. Allerdings endet Patinas
Geschichte ähnlich abrupt und man muss Sunnys Story folgen, um zu erfahren, wie
es mit ihr weiter geht.
Patinas Leben ist nicht so, wie wir uns das Leben der schwarzen
Comunity in den USA vorstellen. Daher hätte ich mir z.T. mehr Erklärungen
gewünscht. Wie wird die teure Privatschule für Patti und Maddy bezahlt? Nur
weil ihre Tante weiß ist und einen weißen Krankenhauskittel trägt, ist sie
nicht automatisch reich. Heißt die Farbe des Kittels, dass sie Ärztin ist?
Woher nimmt sie die Zeit, sich auch noch um die Schwägerin zu kümmern und warum
schritt sie dann nicht früher ein? Klar, Patina wird fürs Studium ein
Stipendium benötigen und da ist das Laufleistungsteam der beste Weg. Aber das
wird leider nicht angesprochen. Es wird immer nur betont, dass sie bessere
Noten braucht, aber warum? Das fehlt mir, da fand ich Ghost einfach
schlüssiger, dabei hat mich der Einstieg mit dem Eintauchen in Pattis Leben
echt erschüttert und die Einblicke in die ihrer Mitschülerinnen ließen mich
bisweilen schadenfroh grinsen.
Jodie Leslie Ahlborn mag ich als Sprecherin sehr gerne. Sie hat
mich auch diesmal nicht enttäuscht, sie klingt jung, bisweilen etwas zickig,
bockig, teeniehaft eben und dann wieder wild entschlossen oder desillusioniert.
Doch habe ich beim Hören nie vergessen, dass sie weiß ist. Dafür ist sie mir
einfach zu bekannt. Die Illusion, farbig zu sein, konnte sie mir nicht vermitteln.
Dabei ist mir aufgefallen, dass das Sprechergenre in Deutschland noch viel
blassgesichtiger ist, als die Schauspielerriege. Warum? Keine Ahnung! Klar,
Stimmen haben keine Hautfarbe, aber wenn ein Sprecher so bekannt ist, wie Jodie
Ahlborn, hat man oft auch ein Gesicht vor Augen, wenn man nicht ganz tief in
der Geschichte versinken kann. Hier wurde ich nicht von der mangelnden Qualität
der Sprecherin abgelenkt, sondern durch Grübeleien über das Schul- und
Gesundheitssystem und deren Finanzierung. Wer bezahlt die Dialyse? Wer bezahlt
die Schule? Bei Ghost war klar: es gibt kein Geld für nix! Und er hatte auch
nichts. Bei Patina ist es anders, komplizierter, aber wie? Nun bin ich Juristin
und interessiere mich für solche Dinge, die Zielgruppe ab 12 Jahren wohl eher
weniger... das kann der Grund dafür sein, warum diese Themen nicht so
ausgebreitet werden, denn oft liegt in der Kürze die Würze. Im Mittelpunkt
steht eine andere Art von Armut. Die Diskriminierung im Gesundheits- und
Bildungssystem und die Bedeutung die Leistungen im Sport in den USA haben
(Danke, dass ich hier geboren wurde!).
Jason Reynolds weiß, wovon er erzählt. Er ist aktuell einer der
wichtigsten jungen, schwarzen Autoren der USA. Er studierte
Literaturwissenschaften und kreatives Schreiben. Er hat nicht nur etwas zu
erzählen, was es unbedingt wert ist gehört zu werden, er vermag es auch so zu
schildern, dass man einfach zuhören muss!
Für alle die fürchten, dass eine Geschichte über ein Laufteam
langweilig ist: Nein, das ist sie ganz und gar nicht. Hier bekommen junge
Hörer/Leser Einblicke in eine für uns fremde, unvorstellbare Welt. O.k. Wir
haben im Laufe der Corona-Krise gelernt, dass wir in Deutschland mit unserem
Gesundheitssystem gesegnet sind und die gute Versorgung auch in Europa nicht
selbstverständlich ist, aber das ist für uns wohl immer noch außerhalb des
Denkbaren, was Pattis Familie geschieht. Auch die schulischen Ungleichheiten,
sind in den Bundesländern, in denen es viele Privatschulen gibt wie z.B. NRW
und Hessen für mein Empfinden nicht so krass. Eine sehr wichtige Reihe, um den
Nachwuchs spüren zu lassen, was die Menschen auf die Straßen treibt, um für
mehr Gerechtigkeit und das Recht auf Leben, für jede Hautfarbe zu
demonstrieren!
Vielen lieben Dank für die freundliche Unterstützung der
Hörcompany in meinem Bemühen, den Themen rund um #blacklivesmatters Gehör,
gerade auch bei den jüngeren Generationen zu verschaffen, weil ein schwarzes
Instagrambildchen einfach zu wenig aussagt.
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