Sonntag, 7. März 2021

Fräulein Gold (2) Scheunenkinder, Anne Stern, gelesen von Anna Thalbach, Argon Verlag 1 MP3 8 h 51 min gekürzt

 

Fräulein Gold (2) Scheunenkinder, Anne Stern, gelesen von Anna Thalbach, Argon Verlag 1 MP3 8 h 51 min gekürzt

 

Berlin Herbst 1923: Die Hyperinflation ist in vollem Gange. Das Geld wird schneller entwertet, als man es ausgeben kann. Die Armut wird immer erdrückender, doch einige haben von dem letzten Krieg profitiert und finden auch jetzt ihr Auskommen, als Opportunisten. Die freiberufliche Hebamme Hulda Gold ist immer noch rund um den Winterfeldplatz aktiv, locker verbandelt mit Kriminalkommissar Karl North und immer bestens informiert von Zeitungsverkäufer Bert. Ihr jüdischer Vater hat ihr einen Auftrag bei einer bitter armen, jüdisch-orthodoxen Familie im Scheunenviertel besorgt. Hulda spürt sofort, dass in dieser Familie irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Als das Neugeborene kurz nach der Geburt verschwindet, scheint die harte Schwiegermutter erleichtert und die ungeliebte Schwiegertochter am Boden zerstört. Auch Karl zieht es beruflich ins Scheunenviertel, als auf einem abgestellten Anhänger eine ganze Wagenladung toter, ausgemergelter Kinder entdeckt wird. Stecken skrupellose Menschenhändler dahinter? Hulda würde Karl gerne unterstützen, der ist aber wenig angetan. Als sie jedoch endlich gemeinsam das Viertel aufsuchen, entlädt sich der stetig anschwellende Judenhass über dem Elendsviertel.

 

Die Hyperinflation sorgt für Not und Elend, der perfekte Nährboden um Hass und Missgunst gegenüber Minderheiten zu säen. So fällt Hitlers judenfeindliche Propaganda schon früh auf fruchtbaren Boden, auch wenn Stresemann und die junge Weimarer Republik das nicht unterstützen. Hulda hat sich nie viel um ihr jüdisches Erbe gekümmert, doch scheint der Glaube ihres Vaters, in dem sie nie erzogen wurde, allmählich immer wichtiger zu werden. Die Stimmung wird immer aufgeheizter und Anna Thalbach lässt ihre Stimme drängender werden. Der Angst die Hulda bisweilen bei Angriffen völlig Fremder empfindet, verleiht sie ebenso Ausdruck wie ihrem Entsetzen, als sie erfährt, dass ein Neugeborenes verschwunden ist und niemand etwas unternimmt. Hulda ist eine moderne Frau, sie kann das Unrecht nicht einfach so stehen lassen, sie muss etwas unternehmen und ihre Neugierde kommt ihr dabei sehr zu gute! Die politische Situation und die Verzweiflung durch die Geldentwertung wird hier sehr eindrücklich und drängend mit Huldas Alltag verwoben, obwohl Hulda sich gar nicht für Politik interessiert und diese am liebsten einfach ignorieren würde. Doch so einfach ist es nicht, denn das aktuelle Geschehen und der Zeitgeist treffen sie unmittelbar.

 

Es hat mir sehr gefallen Hulda und ihre Freunde, Bekannten ebenso wie ihre schöne Rivalin Helene wiederzutreffen. Anne Stern schafft es, atmosphärisch dicht, Not und Elend, sowie Überfluss dieser Zeit vor dem inneren Hörerauge heraufzubeschwören. Doch neben Not und Elend steigen Hass und Missgunst und sämtliche moralischen Hemmungen und Skrupel fallen. Eine Atmosphäre aus Angst und Gewalt entsteht, die zeigt, wie dünn die zivilisierte Lackschicht der Gesellschaft bei manchen ist, und wie leicht in der Not jegliche Solidarität vergessen wird. Ein Gefühl das sich aktuell bisweilen erahnen lässt und erschreckt und hoffentlich deutlich macht, wie wichtig die Demokratie ist. So wird es gegen Ende des Hörbuches wirtschaftlich deutlich besser und auch die Gesellschaft wird auf den ersten Blick wieder friedlicher und toleranter, aber leider wissen wir alle, dass dies nur von kurzer Dauer war. Eine dringend benötigte, unaufdringliche, aber unmissverständliche Warnung aus der deutschen Geschichte, die noch gar nicht allzu lange her ist. Dabei taucht man mit Hulda auch in die nicht nur ihr, unbekannte Welt des orthodoxen Judentums ein. Noch ist Religion und religiöse Herkunft für sie nicht wichtig, aber es macht sich langsam bemerkbar, dass Hulda auf Dauer nicht mehr alle unliebsamen Gedanken weiter ausblenden kann und einen Plan B für die Zukunft benötigt, wie ihre Freunde sie drängen. Ihre Freunde? Eigentlich hatte Hulda bislang keine Freunde, mehr Gönner, doch endlich ändert sich das für sie, denn gerade wenn die Zeiten schwierig werden, ist eine gute Freundin unerlässlich und ich freue mich, demnächst mehr über diese Freundschaft zu erfahren. Das Schicksal der getöteten Kinder macht uns hoffentlich allen deutlich, wie glücklich wir über unseren Sozialstaat sein können. Wenn Kinder zur Ware werden, ist die Menschlichkeit verloren.

 

Den historisch, persönlichen Teil finde ich in diesem Band sehr stark. Der Kriminalfall kommt mir allerdings etwas zu kurz, das Ende etwas zu abrupt. Die Problematik des Menschenhandels aus Elend spielt leider eine etwas untergeordnete Roll. Auch wenn Hulda über das gute Ende sicherlich erleichtert ist, so hat es doch für Karl einen bitteren Beigeschmack. Wieder eine Entwicklung die neugierig macht.

 

Ich bin sehr erleichtert, dass Hulda dieses mal die Finger von den Drogen lässt, wenn auch Karl in diesen schweren Zeiten mit wenig Vergnügen immer häufiger Trost im Gin sucht.

 

Anna Thalbach ist für mich die perfekte Wahl für die forsche, moderne Hulda, die selbst hin- und hergerissen ist. Mal klingt sie ganz weich, mal kratzbürstig oder entschlossen. Nie hat sie mich gelangweilt, ich hätte ihr noch stundenlang weiter zuhören können. Als waschechte Berlinerin vermag sie von jetzt auf gleich von Hochdeutsch ins Berlinerische zu wechseln und ihre Stimme den sozialen Klassen und Herkünften anpassen. So wird Huldas Ermittlung noch lebendiger.

 

Eine Reihe die ich sehr empfehlen kann und der ich auf jeden Fall weiter folgen werde.

 

Ich bedanke mich ganz herzlich beim Argon Verlag für das heißersehnte Hörexemplar!

 

Hier findet Ihr eine Hörprobe:

https://www.argon-verlag.de/hoerbuch/stern-fraeulein-gold-scheunenkinder-2003766/

 

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Freitag, 5. März 2021

Die Unausstehlichen & ich (3) – Die Welt ist voller Wunder, Vanessa Walder, Illu. Barbara Korthues, Loewe Verlag

 

Die Unausstehlichen & ich (3) – Die Welt ist voller Wunder, Vanessa Walder, Illu. Barbara Korthues, Loewe Verlag

 

Im ersten Band berichtet Enni dem Schulpsychiater Dr. Mergen, was so alles abging und wie es zu dem großen Schlamassel kam, um den sich das Buch dreht, im zweiten Band erklärt sie das nächste Chaos Polizist Dirk und dieses Mal steht Enni vor einer unendlich schwierigen Entscheidung, denn erstmals darf sie über ihre eigene Zukunft mitentscheiden. Das Dilemma: egal wie sie sich entscheidet, wird sie Menschen verletzten, die ihr viel bedeuten, also schreibt sie einen Brief an ihren Vater:

Enni ist nun schon eine ganze Weile in dem geheimen Nobelinternat Saaks, auf einer einsamen Bergspitze gelegen und fühlt sich sogar richtig wohl! Sie hat richtig gute Freunde gefunden, auch wenn diese aus dem Durchschnittsraster fallen, xxx was soll's, sie hat ja auch nie in ein Schema gepasst. Da es ihr aber nun so gut geht, flucht sie schon weniger, aber ganz aufgeben kann sie diese Angewohnheit nicht. Klar, sie kann ja auch ihr logisch-mathematisches Denken nicht einfach ablegen, oder das Pläne schmieden. Denn ein Plan muss unbedingt her, um die Geheimnisse ihrer Schule aufzudecken. Warum ist diese so streng geheim? Wer zahlt für sie und Dante das Schulgeld? Wer ist eigentlich Dantes Vater? Wo ist Hausmeister Ahmed Armut abgeblieben und warum hat seinen Job nun Polizist Dirk übernommen? Dantes Schwester ist nicht weniger clever als er und so zeigt sie Enni und Dante am Besuchstag einen Brief der Stiftung, die für ihre Stipendien zahlt. Da ist so einiges faul und sie müssen dringend nach München, um von der Stiftung Antworten zu erhalten. Doch sie können nicht einfach nach München, es sei denn sie nehmen an dem Theaterfestival dort teil, von dem ihr Deutschlehrer so schwärmt. Doch ein Rollstuhlfahrer, eine Blinde und einen Stummen in ein Theaterstück zu bekommen, ist keine leichte Aufgabe und sie müssen natürlich den Vorentscheid gewinnen!

 Dieses Buch ist offiziell von 10 – 12 Jahren, doch meine große Tochter (13) liebt die Reihe so sehr, dass wir nach langer Zeit mal wieder ein Buch zu dritt gelesen haben. Klar finden es die Mädels lustig, wenn Mama die Zensur im Text auflöst und passende Schimpfwörter einsetzt! Aber das ist nur ein Bonusbonbon, der eigentliche Reiz liegt in den quasi hypnotischen Figuren, rund um Heimkind Enni, die einen sofort in ihren Bann ziehen, mit all ihren Eigenarten und Handicaps. Sie sind alle sehr besonders, auch die, die auf den ersten Blick völlig durchschnittlich wirken, wie Alba, die Tochter der Direktorin, die zur Löwin werden kann, wenn es um ihre Freunde geht. Langsam fühlt sich Enni heimisch in ihrem Zimmer im 2. Stock, in dem es angeblich spukt. Sie verliert ihr Bedürfnis wegzulaufen und möchte sich lieber öffnen. Das ist super, denn damit erfahren auch die Leser viel mehr von ihr, ihrer Vorgeschichte und ihren Gefühlen.

 

Enni ist ja der rein logische Typ und nun versucht ausgerechnet sie, ihre Freunde dazu zu bringen, ein Shakespeare-Stück aufzuführen. Natürlich geht das nicht ohne Kraftausdrücke vor sich, aber tatsächlich, ist Enni von Band zu Band weicher geworden und flucht daher auch nicht mehr so viel. Natürlich lässt sich das bei so einem alten Klassiker nicht vermeiden. Zum Glück schafft Alba es, Enni die Quintessenz von Hamlet in Kürze zusammenzufassen. Großartig, so versteht es auch Enni! Das ist super lustig und sehr gut nachvollziehbar und absolut auf den Punkt. Dazu kommen natürlich immer wieder Shakespeare-Zitate, die man eigentlich gar nicht uncool finden kann. Der gute Will schneidet hier richtig gut ab, oh Captain, mein Captain, hätte seine Freude daran gehabt. Gut, meine Große, die gerade Romeo und Julia lesen muss, ist immer noch nicht überzeugt, von dem Gemetzel; die Schauspielszenen und Zitate findet sie dennoch cool. So steckt dieses Abenteuer voller überraschender Wendungen und Szenen und auch wenn nun nicht jeder Leser zu einem leidenschaftlichen Fan der alten Klassiker geworden ist, haben sie vielleicht ein wenig die Scheu verloren und lesen zumindest mal „Puh, der Bär“, in der Originalversion. Denn auch der wird zitiert und hat mit seiner bärigen Weisheit meine Jüngste begeistert. Wieso das? Das muss man nun wirklich selbst nachlesen. Erzählt wird natürlich in Ich-Form. Auch wenn die Autorin kein Teenager mehr ist, klingt die Sprache authentisch, egal ob sie Ennis Gedanken, oder die Kommentare ihrer Freunde oder Lehrer schildert. Da macht das Lesen richtig Spaß, denn Enni ist eine Rebellin, auch wenn sie nun ruhiger werden wird...

 

Richtig super finden wir immer die Illustrationen von Barbara Korthues, die die Situationen und Emotionen der jeweiligen Szenen mit spitzer Feder richtig auf den Punkt bringt. Die verleihen dieser großartigen Geschichte noch zusätzliche Würze, auch wenn dies kaum möglich scheint.

 

Wir haben uns total auf Band 3 der Reihe gefreut, allerdings sind wir am Ende glücklich und wehmütig zugleich. Glücklich, weil das Ende so wunderbar und voller Möglichkeiten, Aussichten und natürlich Wunder ist. Wehmütig sind wir, weil es nun Abschied von Saaks nehmen heißt, aber zum Glück haben wir ja auch noch 2 Hörbücher der Reihe, die wir immer wieder hören können!

 

Wir bedanken uns ganz herzlich beim Loewe Verlag, Lovely Books und ganz besonders Vanessa Walder, für die unglaublich aktive und unterhaltsame Leserundenbegleitung!

 

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