Heul doch nicht, Du lebst ja noch, Kirsten Boie, Oetinger Verlag
Hamburg 22.6.-29.6.1945: Die Krieg ist aus, die Stadt liegt in Trümmern, die Menschen müssen in den wenigen verbleibenden Wohnräumen enger zusammenrücken und fremde Menschen ohne Dach über dem Kopf aufnehmen. Lebensmittel sind rationiert und reichen dennoch nicht aus, um den Hunger zu stillen, der Schwarzmarkt blüht. In einer namenlosen Straße leben drei 14-jährige: Jakob, Sohn eines deutsch-blütigen Vaters und einer jüdischen Mutter, lebt heimlich in den Trümmern, nachdem seine Mutter noch im Februar nach Theresienstadt deportiert wurde. Dass der Krieg vorbei ist, hat er noch nicht mitbekommen. Angst und Hunger treiben ihn um. Trautes Eltern leben, betreiben weiter ihre Bäckerei, aber selbst für sie ist nicht genug Brot zum satt werden da. Doch sie treibt die innere Leere um: seit Ewigkeiten gibt es kein Mädchen ihres Alters mehr in der Gegend und die Schule macht schon ewig Ferien. Hermann war HJ-Führer aber zu jung für den Dienst an der Waffe, anders als sein Vater, der Kfz-Meister, dem beide Beine im Feldlazarett amputiert wurden. Nun ist auch der Sohn ans Haus gefesselt, als Träger seines Vaters, der alleine nicht auf die Toilette eine halbe Etage tiefer kommt.
Drei Schicksale aus Sicht der Jugendlichen, unmittelbare Gedanken, wie frisch aus ihren Köpfen. Unmittelbar, ehrlich, verzweifelt und mit ungebrochenen Hunger nach Leben.
Jetzt da die Zeitzeugen immer weniger werden und einige wild
entschlossen scheinen dieses unsägliche Leid und diese Ungerechtigkeit zu
vergessen, die Krieg und besonders totalitäre, nationalistische Staaten mit
sich bringen, ist es umso wichtiger von denen zu hören und zu lesen, die mit
den Erzählungen der Zeitzeugen aufwuchsen.
Der Stil ist einfach, knapp und direkt, weshalb man das Gefühl hat unmittelbar in die Köpfe der Jugendlichen zu dringen. Ganz ohne literarische Schnörkel ist man sofort mittendrin. Die ersten paar Sätze benötigt man noch zur Orientierung, aber dann... Es sind keine Jugendlichen, die man sofort in sein Herz schließt. Hermann als ehemaliger HJ-Führer, mit seiner herrischen, herablassenden Art, der Traute als Weib nicht mit Fußball spielen lässt, ist sogar richtig abstoßend. Aber nach und nach dringt man mehr in ihn ein und stellt fest, dass es auch der verzweifelte Versuch ist, an besseren Zeiten für ihn festzuhalten. Der Krieg und die Nazis sind weg und ihm bleibt nur sein Leben, aber was für eins? Hat er denn überhaupt eine Perspektive? Die verkrusteten Denkstrukturen sind noch fest in seinem Hirn verwurzelt, hängen fest. Doch als Traute einen Laib Brot in Aussicht stellt, siegt der Überlebensinstinkt über seine Machoeinstellung und nach und nach offenbart sich seine menschliche Seite. Traute ist gefangen in ihrer Trauer über die Veränderungen. Über den Verlust der Schule und ihrer Freundinnen, die auswanderten, oder einfach verschwanden. Nie hat sie wirklich hinterfragt, wohin sie denn verschwunden sind. Dafür ärgert sie sich lieber über die Einquartierung der Flüchtlinge aus Ostpreußen, die ihr jetzt den Platz wegnehmen und deren kleine Kinder sie immer nerven. Nach und nach lernt sie, sich in ihre Lage zu versetzen und durch sie und den kleinen Max, der auf der Straße den Fußball seines gefallenen Bruders zum Kicken mitbringt, kommt sie zum Nachdenken. Was er erzählt geht ihr ans Herz. Als dann plötzlich noch „Friedrich“ wie aus dem Nichts auftaucht, ist sie bereit, alles was für sie bis dahin selbstverständlich war zu überdenken. „Friedrich“ ist es inzwischen so gewöhnt sich und seine Identität zu verstecken, dass es ihn absolut umhaut, als er begreift, dass er frei ist und überlebt hat.
Eine Woche im Leben dieser Jugendlichen, die alles verändert, die ebenso abrupt beginnt, wie sie endet. Das Leben ändert sich radikal für die zwei Jungs und zu gerne möchte man wissen, ob es ihnen anschließend gut geht, aber diese Entscheidung bleibt einem selbst überlassen. Ungewiss ist es, ob sie mit diesem Umbruch klar kommen. Es hilft ja alles nichts! Sie haben gelernt zu überleben, daher habe ich für mich entschieden, dass sie es weiterhin tun werden und klar kommen werden, auch wenn Narben zurückbleiben. Manchen mag dies unbefriedigend vorkommen, aber es ist ein hervorragender Einstieg in ein Gespräch, über das wieso, weshalb, warum? Was weißt Du von Deinen Großeltern? Haben Sie Dir was darüber erzählt? Was haben sie damals im Krieg gemacht?
Da die Jugendlichen, Kinder und Erwachsenen selbstverständlich Begriffe dieser Zeit verwenden und über Organisationen reden, die es heute Gott sei Dank nicht mehr gibt, befindet sich im hinteren Teil ein Glossar mit Erklärungen. Auch wenn ich mit den Erzählungen über den Krieg und die Nachkriegszeit aufgewachsen bin, war mir nicht alles bekannt. Mein einer Opa erzählte immer, er habe den Westwall gebaut, weil er wegen seines Herzens wehruntauglich war. Nun weiß ich, er war im Baubatallion. Er hat Menschen gerettet, in dem er sie zu einer kurzen Haftstrafe verurteilte (er war Richter). Ich hatte so meine Zweifel, dass sich die Verurteilten darüber freuten, aber nun weiß ich, dass der Vater von acht Kindern somit wehrunwürdig wurde und nicht in den Krieg eingezogen werden konnte. Auch wenn ich noch mit den Zeitzeugen aufgewachsen bin, wird mir nun einiges verständlicher. Ein kurzes Buch, welches begreifen lässt, welch Gräueltaten damals geschahen, welche menschenverachtenden Taten für einige nicht nur selbstverständlich waren, sondern auch alltäglich. Obwohl hierzu kein Blick in ein KZ geworfen wird, sondern es „nur“ indirekt offenbar wird ist die Altersempfehlung ab 14. Dieses Grauen wird deutlich, es bleibt hängen, es hinterlässt Spuren. Ein Buch dass man nicht so schnell vergisst.
Die Autorin selbst ist übrigens 5 Jahre nach Kriegsende geboren und hat einige der Folgen des Krieges wohl noch selbst als kleines Kind mitbekommen, denn so schnell ist Hamburg nicht aus Schutt und Asche wieder auferstanden und alle hatten wieder genug zu essen. Sie hat 1945 zwar nicht selbst miterlebt, aber die Erzählungen der Zeitzeugen haben ihre Kindheit und Jugend geprägt.
Wenn man sich die Fahnen und Zeichen auf Anti-Corona-Demos sieht, weiß man, wie wichtig es ist, dass allen klar ist, was diese bedeuten und das diese Grenzen auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Ein Mahnmal, das nicht nur Jugendliche ab 14 Jahren gelesen haben sollten.
Vielen lieben Dank an Lovelybooks und den Oetinger Verlag für mein Rezensionsexemplar!
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