Interview mit Irmgard Kramer zum Erscheinen von 17 Erkenntnisse über Leander Blum
Liebe Irmgard „Leander Blum“ war mein erstes Jugendbuch, das
ich von Dir gelesen habe, auch wenn es nicht Dein erstes war. Bei den
Danksagungen las ich, wie viele Jahre Du an diesem Buch bereits gearbeitet
hast, woran lag es, daß es so lange dauerte?
Bei mir dauert das
immer so lang. Das erste Buch, das ich geschrieben habe, war „Am Ende der Welt
traf ich Noah“. Es hat 11 Jahre gedauert bis es erschienen ist. Natürlich
schreibt man nicht permanent dran, aber es muss reifen und wachsen. Andere
haben das offenbar besser drauf als ich. Ich muss viele Umwege gehen. Für
dieses Buch habe ich 800 Seiten geschrieben, die ich komplett vernichten
musste. Ganz allein hätte ich das nicht geschafft.
Nachdem ich mich über
800 Seiten in eine fiktive Bilderwelt geschrieben habe und merkte, dass das
nicht funktioniert, wollte ich aufgeben. Bis meine Agentin kam und mir die
richtigen Fragen gestellt hat. Plötzlich habe ich gesehen, worum es wirklich
geht. Dafür musste ich leider 800 Seiten löschen. Aber wenige Szenen blieben
übrig und die waren wichtige.
Ich glaube, ich kann
nicht gut plotten. Ich habe zu viele Ideen. Ich will zuviel. Ich verstricke
mich. Es gibt zu viele Abzweigungen und manchmal weiß ich nicht, ob ich nach
links oder nach rechts gehen soll. Meistens ist es meine Agentin, die es
schafft, meine Gedanken anzustupsen und in eine andere Bahn zu lenken. Wenn ich
dann einer Figur nahekomme, weiß ich erst, was ich wirklich erzählen will.
Außerdem habe ich den Anspruch an mich selbst,
eine mehrdimensionalen Geschichten zu erzählen. Ich will keinem
Null-Acht-Fünfzehn-Rezept folgen, sondern mehrere Schichten übereinanderlegen.
Ich will den Leser überraschen, ihm Rätsel aufzugeben und ihn im besten Fall
mit Überraschungen und unerwarteten Wendungen belohnen. Er soll ja was dafür
kriegen, dass er sich die Mühe macht, so viele Seiten zu lesen. Aber so eine
Geschichte schreibt man eben nicht über Nacht – also ich nicht.
War „Leander“ eigentlich das erste Buch, das Du begonnen
hast, wenn auch erst später beendet? Gab er den Anstoß den Schuldienst zu
verlassen?
Nein. Das war „Am Ende
der Welt traf ich Noah“. Danach, beziehungsweise dazwischen, schrieb ich „Die
indische Uhr“ – auch dafür habe ich vier Jahre gebraucht. Mit Noah begann
alles. Mit Noah kam der Wunsch, vom Schreiben leben zu können und eines Tages
mein eigenes Buch in Händen zu halten. Es hat – wie ich oben geschrieben habe –
elf Jahre gedauert.
Dieser Roman ist voller Persönlichkeiten mit Ecken und
Kanten, fernab vom Durchschnitt. Wer ist Dein liebster „Nebendarsteller“ in
diesem Roman?
Oh, das ist, wie wenn
man eine Mutter fragt, wer ihr liebstes Kind ist. Ich mag sie alle. Besonderes
Mitgefühl hab ich für Jonas‘ Vater. Und auch für Leanders‘ Vater. Ich glaube,
der war als junger Mann ziemlich cool. Aber an dem Punkt, als er sich entschied
Polizist statt Maler zu werden, hat er sich selbst verraten und es blieb ihm
nur noch die Flucht in den Alkohol. Weißt du eigentlich, liebe Dani, was für
ein schönes Gefühl ist, sich mit anderen Menschen darüber zu unterhalten? Es
ist das erste Mal, dass ich das tu. Das Buch erscheint ja erst in ein paar
Tagen. So viele Jahre war ich allein mit meinen Figuren. Und plötzlich ziehen
sie hinaus in die Welt. Ich empfinde das als großes Privileg. So lange habe ich
nur für mich selbst geschrieben. Dass es da auf einmal lebende Menschen gibt,
die sich dafür interessieren, ist nicht selbstverständlich. Dafür will ich dir
danken.
Wie hast Du PEKS, Deinen Streetart-Berater eigentlich
entdeckt? Durch seine Werke an den Wänden Wiens oder durch Recherche?
Tja, wie soll ich
sagen. Die Geschichte ist sehr banal. Und ich hoffe, er ist mir nicht böse.
PEKS ist mein Neffe. Tatsächlich hat mich seine Leidenschaft inspiriert. Er hat
als 14-jähriger verbotene TAGS an Wänden hinterlassen, und plötzlich stand ein
Polizist in Zivil in der Wohnung meiner Schwester und hat sich Zugang zum
Keller verschafft, der über und über besprayt ist. Durch PEKS habe ich einen
Einblick in eine Welt bekommen, die mir bisher verborgen war. PEKS hat Theater-,
Film und Medienwissenschaften studiert. Er hat sich intensiv mit Kunst im
öffentlich Raum beschäftigt, hat das Thema für sich selbst von allen Seiten
beleuchtet und das Malen selbst stets verfolgt. Nun ist es so weit, dass er
seine Leidenschaft zu seinem Beruf machen kann. Er wird für Auftragsarbeiten
gebucht, darf scheußliche Wände, Unterführungen, Etiketten von Flaschen und
alles Mögliche bemalen. Und er gibt Graffiti-Workshops an Schulen. Den
Schülern, und den Lehrern, macht das sehr viel Spaß.
PEKS ist mit mir öfters
durch Wien gegangen. Er konnte mir zu jedem Piece eine kleine Geschichte
erzählen. Er konnte mir erklären, wer und was hinter den Bildern steckt. Er
konnte mir sagen, wer nur zerstören und Dagegensein will und wer etwas zu sagen
hat. Er hat mir erklärt, wie die einzelnen Crews untereinander agieren, wer wen
übermalt, wer wen respektiert. Er nahm mich mit in all die Läden. Er nahm mich
mit zur Donaubrücke. Die Szene, in der die Modells für ein Fotoshooting posen,
habe ich original erlebt – PEKS hat das Piece für das Fotoshooting gemalt. Es
war eine Auftragsarbeit für den Vienna Hip-Hop-Ball. Über acht Stunden ist er
in der Kälte gestanden, an einem Sonntag, und hat gesprayt bis ihm die Arme
abfielen – das alles ist auch körperlich eine große Herausforderung. Also für
mich. Nicht für ihn. Ich durfte das am eigenen Leib erfahren. Denn natürlich
hat er mich zu einer freien Wiener Wand geschleppt und ich habe mein eigenes
Piece gesprayt. Sagenhaft dilettantisch. Aber plötzlich hab ich gespürt, was da
dahintersteckt. Mir fielen schon nach 4 Buchstaben die Finger ab. Meine Linien
waren dick und fett. Er nahm dann die gleiche Dose und zauberte eine hauchdünne
Linie an die Wand.
Leander und Jonas haben stets konkrete Farben mit der
Typenbezeichnung vor Augen. Das fand ich sehr faszinierend, war das der Einfluß
von PEKS künstlerischer Beratung?
Nein. Das war mein
eigener Anspruch. Tatsächlich habe ich mich sehr lange mit den
Farbbezeichnungen von Spraydosen und den Farbbezeichnungen von Öl- und
Acrylfarben beschäftigt. Rot ist nicht Rot. Die Namen für diese Farben fand ich
extrem anregend. Da müssen ein paar Dichter am Werk gewesen sein, auf jeden
Fall sehr gute Beobachter. Und wenn ich mich in Leander hineinversetze, kann
ich mir vorstellen, dass er die Welt anders sieht als wir. Lilas Haare sind für
ihn nicht blond. Denn was genau ist blond? Wie würde er dieses Blond malen? Es
gibt keine Farbe, die „Blond“ heißt. Würde er sie mit Gelb malen? Wohl kaum. Verstehst
du, was ich meine? Leander Blum würde das Blond ihrer Haare mit folgenden
Farben malen: helles Permanentgelb, Aureolin, Zinkweiß, Caput Mortuum,
Zinnober, feuriges Chromoxidgrün
Leander und Jonas verdankten ihrem Sportlehrer genannt „der
Drill-Sergeant“ ihre Fitness, hilfreich bei der Flucht vor ermittelnden
Polizisten. Was verdankst Du Deinen Lehrern?
Uiuiui. Deine Fragen
haben es in sich. Ich hatte das Pech nur wenige gute Lehrer zu kriegen. Lass
mich die Guten mit Namen erwähnen. Sie haben es verdient: Kurt Sterzl, Birgit
Intemann und Peter Niedermair. Das waren Deutschlehrer. Sie haben mir gegeben,
wonach ich suchte. Ansonsten hatte ich im Laufe von 12 Schuljahren unfassbar
viele grottenschlechte, unpädagogische, unmotivierte Langweiler. Mein
Geschichtelehrer hat aus einer Mappe vorgelesen und kaum lesbare Matrizen verteilt.
PEKS hatte eine Generation später den gleichen Lehrer – die Mappe und die
Zettel waren immer noch die gleichen – nur noch unlesbarer. Gelernt habe ich
vor allem an den sadistischen, menschenverachtenden, rassistischen Lehrern.
Insofern ist deine Frage wirklich gut. Denn für den Drill Sergeant gibt es ein
realistisches Vorbild. Er war im Gymnasium acht Jahre lang mein
Klassenvorstand. Ich spüre heute noch Wut, wenn ich an ihn denke. Auch mein
Physiklehrer war ein Sadist. In seiner Klasse haben im Laufe eines Schuljahres drei
Mädchen versucht sich das Leben zu nehmen. Sein Kommentar dazu: „Selbst dafür
sind sie zu blöd.“ In dieser Zeit habe ich gelernt, mich gegen
Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Ich habe versucht für die Schwachen zu kämpfen.
Das hat zwar im Augenblick nichts genützt, aber es hat mich stark gemacht. Und
die lähmende Angst, die ich vor jeder Physikstunde hatte, habe ich auch nicht
vergessen – hilft vielleicht beim Schreiben, wenn man so etwas erlebt hat. Auf
jeden Fall war das eine intensive Zeit.
Lila backt sehr gerne, aber auf traditionelle Art, mit
Butterflocken verteilen auf gesiebtem Mehl. Backst Du selbst auch gerne? Man
sieht ja schon schneller das Ergebnis seiner Arbeit, als beim Schreiben.
Nein. Ich backe nur einmal
im Jahr. Jeden Mai gibt es einen Gugelhupf. Das ist alles. Sonst backe ich nie
Kuchen. Was ich aber vor einem halben Jahr entdeckt habe, ist das Brotbacken.
Und zwar aus Not, weil ich diese aufgebackenen Teiglinge nicht mehr schmecken mag
und weil die guten Bäckereien in unserem Dorf schließen mussten, weil keiner mehr
bereit ist, für gutes Brot anständiges Geld zu zahlen. Diese Entwicklung macht
mich traurig. Aber so hab‘ ich eben selbst angefangen Brot zu machen. Und jetzt
weiß ich: Es ist nicht einfach. Und es braucht sehr viel Zeit. Ich rede nicht
von irgendwelchen Backmischungen. Um gutes Brot hinzukriegen – mit einer
Mischung aus Sauerteig und Hefe-Vorteig – brauche ich mindestens drei Tage.
Mir gefielen auch die kleinen feinen Einblicke in die Wiener
Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit. Student Arsim, der Döner verkauft, um
das Studium zu finanzieren und mit falschem Akzent spricht, Jonas gutbürgerliche Oma, der Obdachlose Karl,
Oswalda in ihrer ganzen Pracht des alten Geldes, die Lehrer….. irgendwie prägt Wien die Geschichte schon.
War es Dir wichtig, sie nicht an einem namenlosen Ort spielen zu lassen?
Da hast du mich jetzt
erwischt. Ich war mir nämlich unsicher. Ursprünglich sollte die Geschichte in
einer namenlosen Großstadt spielen. Den Donaukanal machte ich zu einem Kanal,
den Schwedenplatz zum Norwegerplatz und den Prater zum Rummelplatz. Das kam mir
dann aber absurd vor. Es erschien mir wie ein Verrat. Ich bin zwar viel in
Wien, aber ich bin nicht dort geboren. Ich glaube, ich habe das Wort „Wien“ in
dem ganzen Buch nicht oder nur sehr spärlich verwendet. Ich wollte, dass sich
jeder Leser mit der Geschichte identifizieren kann. Also auch einer, der in
Berlin, Hamburg oder Mannheim lebt. Denn auch dort gibt es eine aktive
Graffiti-Szene. Was allerdings ein Problem war, war die Sprache. Wiener
erkennen sehr wohl, dass die Geschichte in ihrer Stadt spielt. Nur die Figuren
sprechen nicht so. Das hat man mir schon vorgeworfen. Aber hätte ich in jedem
zweiten Satz urarge Wiener Ausdrücke verwendet, hätten mir die Wiener das wohl
auch vorgeworfen und die Deutschen hätten sie vielleicht nicht verstanden. Das
ist ein schwieriges Kapitel. Ich habe den Wiener Jugendlichen auf den Mund
geschaut. Und was wirklich traurig ist: Die meisten sprechen nur noch in
„Netflix“. Das heißt, sie finden es cool das Deutsch aus Serien zu imitieren.
Sie verlieren ihren Dialekt. Erst wenn man junge Menschen darauf anspricht,
fangen sie an nachzudenken und sagen: „Hm, stimmt eigentlich.“ Was unsere
Dialekte anlangt, haben wir euch Deutschen gegenüber sowieso einen Komplex.
Den Knaller fand ich ja auch die Namen der Kunstkritiker,
Galeristen und Gönner zu Kapitelbeginn. Wie bist Du denn auf die gekommen? Als
sie alle am Ende gemeinsam erschienen, hätte ich mich fast schlappgelacht.
Da bin ich nicht
einfach so draufgekommen. Das habe ich mir mühsam und mit sehr, sehr viel
Recherche erarbeitet. Ich habe mir unzählige Dokus und Filme über Maler
angesehen, über moderne, noch lebende und längst Verstorbene. Ich habe
Kunstzeitschriften studiert. Ich habe Ausstellungskataloge gesammelt. Ich war
auf Ausstellungen, in Galerien und habe Vernissage-Reden nachgelesen und
angehört. Ich habe deren Wortschatz gesammelt und meine eigenen kleinen
Kritiken daraus geschrieben. Die Namen dafür zu finden, war hingegen pures
Vergnügen. Das ist die kleinere Übung dieses Spiels.
Und zum Schluß: Was bestellst Du in einem Wiener Kaffeehaus?
Einen Schwarzen Verlängerten. Vielen Dank für dein
Interesse.
Und wer nun neugierig ist, kann nicht nur das Buch
verschlingen (dringend empfohlen) sondern auch PEKS in Wien oder auf Facebook
bewundern
https://www.facebook.com/peksr/